Staub Im Paradies
tatsächlich nichts verbrochen hatte und nur möglichst schnell wieder in die Schule wollte. Aber sie war sich ebenso sicher, dass Janani mehr wusste, als sie bisher ausgesagt hatte.
»Das weiß ich«, reagierte sie verständnisvoll. »Aber ich kann dich nicht gehen lassen, bevor du mir gesagt hast, woher dein Vater und dein Bruder Lathan den ermordeten Rexon Nadesapilay kennen.«
Schluchzen. Verzweiflung. Hilflosigkeit. Aber kein Protest gegen ihre Aussage, dass sich die Männer gekannt hatten.
Gret war zwar angespannt – sie redete schon über eine Stunde unentwegt auf die Schülerin ein –, aber dennoch ziemlich glücklich. Felix hatte sich bei ihr gemeldet und per SMS angefragt, ob sie kommenden Freitag mit ihm essen gehen würde, was sie nach einer fünfstündigen Wartefrist freudig bejaht hatte. Nicht dass sie jetzt blind auf Wolke sieben geschwebt hätte. Aber ein Date war immerhin ein Date und ein Zeichen dafür, dass auch die Frau in ihr noch lebte. Und er gefiel ihr durchaus, der Kinomann, mehr zumindest als jeder andere, der ihr in den vergangenen Wochen über den Weg gelaufen war.
Sie blickte auf ihre Swatch. 13.26 Uhr. Sollte sie Janani ziehen lassen oder sich stattdessen bemühen, einen Haftbefehl genehmigt zu bekommen? Sie neigte zu Ersterem, auch wenn Michaels Idee, die ganze Familie in U-Haft zu nehmen und jede Person einzeln zu bearbeiten, rückblickend sicher richtig gewesen war. Während Lathans Vater sofort nach einem Anwalt geschrien hatte, waren ihnen die übrigen Mitglieder der Familie bislang ganz auf sich allein gestellt ausgeliefert. Gut, man hatte sie allerdings auch nicht explizit auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, einen Rechtsbeistand hinzuziehen zu können.
»Dein Bruder liegt im Koma, Janani«, nahm Gret einen neuen Anlauf. »Vielleicht stirbt er und wir wissen nicht mal warum. Das kann dir doch nicht einfach egal sein!«
Neue Sturzbäche liefen über das hübsche, dunkle Gesicht.
»Lathan wollte heiraten«, hörte Gret Janani schließlich ganz leise murmeln.
»Was?«
»Lathan wollte heiraten!«, wiederholte das Mädchen etwas lauter und fügte trotzig hinzu: »Das heißt, mein Vater wollte es. Ein Mädchen aus Sri Lanka.«
Gret triumphierte innerlich. Endlich eine Information! Sie dachte fieberhaft darüber nach, wie sie weiter vorgehen sollte. Das Mädchen auf gar keinen Fall einschüchtern. Sanft vorgehen. Ganz vorsichtig am Ball bleiben.
»Hat das auch etwas mit Rexon zu tun?«, flüsterte sie schon fast.
Janani schüttelte ihre schwarzen Haare und biss sich in den Handrücken, so sehr, dass die Abdrücke ihrer Zähne zu sehen waren.
»Rexon wollte das nicht.«
Gret erstarrte. Sie stand möglicherweise vor dem entscheidenden Durchbruch. Atemlos wartete sie darauf, dass Janani weitersprach.
Die hörte unverhofft auf zu weinen und blickte ihr forschend ins Gesicht. Gret begann instinktiv, wohlwollend zu lächeln. Und offensichtlich gefiel Janani, was sie sah.
»Meine Eltern regten sich unglaublich über diesen Rexon auf«, erzählte sie weiter. »Das Mädchen, Vidya, war Lathan seit vielen Jahren fest versprochen.«
»Kannte der sie denn?«
»Ein wenig«, antwortete Janani ausweichend. »Ich glaube, dass Rexon diese Vidya geliebt hat und hierherkam, um sie freizukaufen.«
Gret traute ihren Ohren nicht.
»Das war seine einzige Möglichkeit«, erklärte Janani. »Meinen Vater mit Geld von der Idee dieser Zwangsheirat abzubringen.«
Gret atmete aus. Die junge Frau vor ihr hatte es ausgesprochen, das verpönte Wort, das Tabu, den Begriff, den niemand hören wollte in der Schweiz: Zwangsheirat.
Mittelalter und Barbarei, fügte Gret im Geiste hinzu. Sie hatte während der Zeit, als sie noch in Basel tätig war, unter anderem auch drei Monate bei der Fremdenpolizei gearbeitet und kannte das leidige Thema. Es trieb ihr, ungeachtet aller Toleranz fremden Kulturen gegenüber, die Zornesröte ins Gesicht.
Zwangsheirat. Importbräute. Ehrenmorde.
Erst kürzlich hatte sie eine Studie der Lausanner Stiftung Surgir gelesen, in welcher Hunderte von Zwangsheiraten dokumentiert waren und von einer großen Dunkelziffer, sprich mehreren Tausend Fällen jährlich, die Rede war. Gret erinnerte sich daran, dass allein ihre Basler Fremdenpolizeieinheit in Dutzenden von Fällen ermittelt hatte – meist ergebnislos. Im Fadenkreuz der Fahnder hatten dabei neben Kurden, Türken und Kosovo-Albanern mehrfach auch Tamilen gestanden. Zwanzig bis dreißig Prozent der in der Schweiz
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