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Staub Im Paradies

Titel: Staub Im Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Solèr
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»Aber zur Sache: Die Kugeln, die mir gebracht wurden, stammen eindeutig aus einem G22. Ein eher selten anzutreffendes englisches Scharfschützengewehr der Firma Accuracy mit einem Zielfernrohr der deutschen Hensoldt AG. Zweiunddreißig-Millimeter-Geschosse. Anfangsgeschwindigkeit 880 bis 900 Meter pro Sekunde. Von Fachleuten zielsicher auf bis zu sechshundert Metern verwendbar.«
    »Und von Amateuren?«
    »Zwei- bis dreihundert Meter, wenn sie Talent haben«, sagt er undeutlich.
    »Kämpfen Sie immer noch mit diesen Bananen?«
    »Ich habe noch ein Stück Zitronentorte gefunden, stellen Sie sich vor«, erklärt er. »Sonst kann ich Ihnen leider nicht viel sagen zu diesem Gewehr. In der Schweiz wurde in den vergangenen dreizehn Jahren keine solche Waffe verkauft. Zumindest nicht offiziell.«
    »Aha«, äußere ich mich und überlege. »Übrigens, Strich, wir haben hier Bananen, die grün sind und trotzdem reif schmecken. Viel besser als alle, die es bei uns gibt.«
    »Wie schön, Staub! Ich beneide Sie. Aber vielleicht interessiert Sie noch, dass die GSG 9 solche Gewehre benutzt.«
    »Die Deutschen?«, staune ich.
    »Die deutsche Spezialeinheit, jawohl«, bestätigt er mir.
    »Na großartig! Besten Dank! War wirklich nett, mit Ihnen zu plaudern.«
    »Das Vergnügen war ganz meinerseits. Genießen Sie sowohl das Festmahl als auch Ihre Ferien!«
    »Ich versuch’s«, sage ich und verabschiede mich.
    Ich habe nichts anderes erwartet. Der Todesschütze konnte Schütz nicht einfach mit irgendeinem Allerweltsgewehr niederstrecken. Nein, er brauchte ein Spezialgewehr, um ein bisschen Thrill in diesen Fall zu bringen. Nicht dass wir uns auf der Suche nach ihm womöglich langweilen.
    Klar ist, dass Strichs Erkenntnisse den deutschen Schachguru Müller mitten in das Fadenkreuz meiner Spekulationen rücken. Deutscher Mann – deutsche Optikfirma – deutsche Spezialeinheit. Unendlich dürftig dieser Gedankengang, zugegeben. Aber etwas Besseres habe ich derzeit noch nicht.
    Morgen werde ich mir diesen Müller jedenfalls einmal vorknöpfen, denn ich muss sowieso nach Haputale: einerseits, um die Familie des in Zürich erstochenen Tamilen aufzusuchen; und andererseits, um am Perron zu stehen und zuzusehen, wie der Rest meiner Familie mit dem Dampfzug in die Teeberge entschwindet.
    Ich kehre zu dem Gelage zurück und stelle fest, dass unterdessen auch die Gefräßigsten von uns geschlagen in den Seilen hängen. Einzig Anna stochert noch auf ihrem Teller herum. Ohne allerdings wirklich zu essen. Es sieht vielmehr so aus, als seziere sie im Halbschlaf irgendwelche Mücken.
    Lakmini begrüßt mich freudig wie einen seit Jahren verschollen geglaubten Heimkehrer und häuft mir ungefragt eine neue Portion Curryhuhn auf meinen Teller, mit der man halb Somalia durch den Tag gebracht hätte. Ich winke lachend ab, aber sie lässt sich nicht beirren und schiebt auch noch ein paar gekochte Auberginen und zwei Suppenkellen gelben Linsenbrei nach.
    »You want another beer?«, fragt sie mich, das Lions Lager schon in der Hand haltend.
    Ich verneine und bitte sie um Tee. Das Bier verkommt dennoch nicht: Per greift dankbar zu und leert es in wenigen Schlucken, wobei ein leises Gurgeln ertönt. Fehlt nur noch, dass er rülpst. Aber in Adriennes Gesellschaft getraut er sich das glücklicherweise nicht.
    »Es ging um die Kugeln«, informiere ich Verasinghe über Schüsseln und Töpfe hinweg. »Wir kennen jetzt das Fabrikat des Gewehrs.«
    Er schüttelt zustimmend den Kopf und betrachtet mich neugierig.
    »Ich erzähle es dir später«, sage ich und genehmige mir nochmals einen Bissen dieses Teufelshuhns, das unglaublich gut schmeckt – ultrascharf und süßlich mild zugleich.
    Zu meinem Bedauern passt leider nicht mehr in meinen Magen. Ich japse nach Luft, öffne den obersten Knopf meiner Hose und atme drei Mal tief durch. Ein gefährlich klingendes Grollen dringt aus meinem Bauch, während mir der Schweiß von der Stirn läuft. Hoffentlich sterbe ich nicht an Überfütterung. Oder an einem Hirnschlag. Mir scheint, sämtliches Blut in meinem Kopf ist längst in Richtung Verdauungstrakt abgesackt.
    Ich blicke verunsichert um mich und stelle fest, dass kein Mensch mein Leiden beachtet. Tochter Anna unterhält sich angeregt mit Verasinghes neunjähriger Tochter. Sie scherzt und lacht und wird von der Kleinen nach allen Regeln der Kunst ausgekitzelt. Adrienne debattiert mit Verasinghe und seinen Söhnen über die jüngste Politik des Landes. Leonie

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