Staub zu Staub
über ihm auf und verdeckt die Hälfte des Himmels.
Nein!
Tilse ergreift seine Tochter, presst die Kleine an die Brust. Die Wassergewalt schlägt auf ihn nieder. Sie reißt ihn fort, wirft ihn hin und her, zieht ihn unter die Oberfläche. Verzweifelt versucht er, nach oben zu gelangen, schluckt die salzige Flüssigkeit, die in seiner Kehle brennt und langsam seine Lunge füllt. Mit letzter Kraft strampelt er sich hoch zu den Sonnenstrahlen, die durch das Blaugrün eindringen. Aber etwas zieht ihn nach unten, es wird immer dunkler und kälter. Sein letzter Gedanke gilt seiner Tochter, die er noch an seine Brust drückt. Seine letzte Wahrnehmung ist ihr Herzschlag, der immer schwächer und langsamer wird.
Kalt.
So kalt.
Dunkelheit. Er schwebt durch Universum und Zeit, losgelöst von allem Weltlichen. Ein Lichtstrahl spaltet die Finsternis und vor ihm erscheint Jonathan. Er ist gewaltig und Tilse fühlt sich wie ein Sandkorn einem Felsen gegenüber.
Jonathans Haar weht strahlend weiß. In den Augen lodern Flammen und sein Gesicht leuchtet von innen. So grell, dass Tilse die Augen zusammenkneifen will, es aber nicht über sich bringt. Er will es sehen, etwas von dieser Schönheit und Herrlichkeit in sich aufnehmen. Jonathan streckt seine rechte Hand aus und sieben Sterne fallen durch die gespreizten Finger. Die Lichter wirbeln herunter und erlöschen. Nebel steigt auf und schwillt um Tilses Körper, verschleiert den Blick. Nein! Auf keinen Fall will er Jonathan aus den Augen verlieren! Aber die Schwaden werden immer dichter.
Kälte lähmt ihn.
Fürchte dich nicht!
Jonathans Stimme erschüttert ihn bis ins Mark und Tilse fürchtet, wie ein Eiszapfen zu zerschellen.
Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Hölle
.
Die Worte klingen so bekannt.
Komm herauf und ich werde dir zeigen, was dann geschehen muss
.
Woher kennt er das alles schon? Er kann sich nicht erinnern. Tilse wird ergriffen und nach oben gesaugt. Er lässt es geschehen. Er kann sich nicht wehren.
Nun sieht er Jonathan vor einer wellenden Wassermauer stehen. Zwei schwarze Schwingen heben und senken sich an seinem Rücken.
Folge mir und ich enthülle dir das Geheimnis
.
Tilse ergreift Jonathans Hand. Zusammen schreiten sie durch das gleißende Wasser.
Rosenduft erfüllt die Luft. Mit voller Brust atmet Tilse ein und lächelt. Rosenbüsche, überall, wohin das Auge reicht. Zwischen den Sträuchern glänzen Kieswege wie Gold.
Willkommen im Prades, dem Garten des Herrn
.
Jonathan lächelt ihm zu und geht voran. Tilse schwebt hinterher. Er breitet die Arme aus und berührt die Blüten. Doch die Blätter werden schwarz, vertrocknen und zerfallen zu Staub. Tilse zieht die Hände zurück, um diese Schönheit nicht zu zerstören. Er gleitet und das absolute Glück berauscht seine Sinne. Es bläht sich in ihm auf, wird immer intensiver. Tilse schreit, ohne es länger in sich halten zu können. Glücklich. Er ist so glücklich. Und er will mehr! Mehr davon! Mehr!
Plötzlich erblickt er einen Thron mitten auf einem gläsernen Meer. Der Thron ragt in die Höhe wie ein Wolkenkratzer und ist von flirrender, regenbogenfarbener Luft umgeben. An ihm bilden vierundzwanzig kleinere Sitze einen Halbkreis. Goldene Stufen führen hinauf und sieben Fackeln zeichnen den Weg dahin ab.
Jonathan schreitet über das Meer und seine Füße hinterlassen Kreisspuren, die sich in alle Richtung ausdehnen. Jede Fackel, die er passiert, flammt hinter ihm auf. Er kniet sich vor die Stufen, verneigt den Kopf und streckt seine rechte Hand aus.
Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; er war und er ist und er kommt
, ruft er und seine Stimme grollt über alle Grenzen hinaus.
Würdig bist du, unser Herr und Gott, Herrlichkeit zu empfangen und Ehre und Macht. Denn du bist es, der die Welt erschaffen hat, durch deinen Willen war sie und wurde sie erschaffen
.
Eine gewaltige Kraft geht vom Thron aus, sie drückt Tilse nieder, raubt ihm den Atem. Er fällt auf die Knie. Für einen Moment sieht er Gestalten, überall um ihn und auf den kleineren Sitzen. Jede von ihnen hat sechs Flügel und die Flügel sind von Augen übersät. Unzählige, blutende Augen, die er zu kennen glaubt: die von Frau Wiebke, von der Mutter des Fernfahrers. Sie blinzeln und starren ihn an.
In Jonathans Hand erscheint eine Schriftrolle. Die Luzzatto-Rolle!
Er
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