Staub zu Staub
du?“
„Ja“, schluchzte sie. „Ja, okay.“
Langsam richtete sie sich auf und hörte Husten und Röcheln. Daniel taumelte um die Ecke.
„Dani!“, kreischte Kristin. Wie eine Sprungfeder schnellte sie hoch und drückte ihn an sich.
„Halt“, krächzte er und hielt mit einer Hand seine schiefe Brille, mit der anderen tröstete er seine Liebste. „Du erwürgst mich gleich.“ Der Husten schnitt ihm das Wort ab. Er klappte in sich zusammen, doch zum Glück ging der Anfall gleich vorbei.
„Was ist hier los?“, fragte Mirjam. Ihre Freude, ihn lebend zu sehen, musste sie für später aufheben.
„Eine ganz üble Sache. Wirklich übel.“ Er spuckte auf den Boden und wischte sich über die Lippen. „Ich befürchte, das ist der Anfang vom Ende.“
„Was meinst du damit?“
„Die Apokalypse. Tilse, der Idiot, hat …“
Er redete, doch Mirjam hörte nicht weiter zu. Über seine Schulter hinweg starrte sie Preschke an. Der alte Mann stand mitten im Gang, die Arme ausgebreitet, die Augen unnatürlich verdreht, dass Mirjam nur noch das Weiß darin sah. Aus seinem geöffneten Mund lief Speichel sein Kinn herunter.
Er glitt auf die Knie.
Herr … Herr … Herr …
Neben ihm erschien Kristins Mutter, blass und mit zerzaustem Haar, in dem braune Blätter und Moos steckten. An einer Wange klebte getrocknetes Blut. Als die Frau die Lider öffnete, entblößte sie eine leere Augenhöhle. Sie breitete die Hände aus und kniete nieder.
Herr … Herr … Du Heiliger …
Der Fernfahrer trat aus dem Dunkel, an seiner Seite eine alte Frau, genau wie er einäugig, mit Brandspuren im Gesicht und einem fehlenden Ohr. Ein weißhaariger Mann mit goldgeränderter Brille erschien. Seine beiden Oberschenkel waren durchschossen. Der gehäutete Mönch, dessen Blick aus Augen ohne Lider Mirjam durchbohrte, humpelte herbei. Die entblößten Muskeln zuckten bei jeder Be-wegung.
Der Gang füllte sich mit Toten. Sie waren überall, streckten ihre Arme in die Höhe und sanken einer nach dem anderen auf die Knie.
Herr …
Du Heiliger …
Hände, überall Hände. Sie ragten aus den Wänden und dem Boden, klagende Stimmen erfüllten das Kellergewölbe.
Wie lange zögerst du noch, Gericht zu halten?
Und unser Blut an denen auf der Erde zu rächen?
Herr … Herr … Herr …
„Geht weg!“, kreischte Mirjam, um die Stimmen zu übertönen, und hielt sich die Ohren zu. „Haut ab!“
Sie tobte und schlug um sich. Aber auch dann sah sie die Toten noch, hörte ihre Rufe. Es gab kein Entkommen. Sie wimmerte und spürte, wie jemand an ihren Schultern rüttelte.
„Mirjam, was ist los? Was siehst du?“
Daniel. Sie wagte die Augen zu öffnen. Die Toten waren fort. Sie schluchzte und drückte ihr Gesicht an seine nackte Brust. „Ich habe sie alle gesehen. Preschke, Helmut und andere. So viele! Sie waren da …“
„Beruhige dich.“ Er tätschelte ihren Rücken. „Was noch? Haben sie etwas gesagt?“
Sie nickte schwach. „Vom Gericht. Und dass ihr Blut an denen, die auf Erden sind, gerächt werden soll.“
Sie spürte, wie sein Körper sich anspannte. „Die Klagenden. Also habe ich Recht. Es ist die Apokalypse. Hast du vorher jemanden vier Mal ‚Komm’ rufen gehört?“
„Ja.“ Mirjam weinte. „Du auch?“
„Nein. Ich denke, nur du kannst es wahrnehmen, weil du mit Max – nun ja, in gewisser Weise verbunden bist …“
„Oder weil sie noch high ist“, wandte Kristin ein, doch Daniel beachtete den Einwand nicht.
„Mit den Rufen wurden die vier Siegel gebrochen und die vier apokalyptischen Reiter losgelassen: ein weißer Reiter, Tod, Krankheit, Krieg. Die Klagenden kommen nach dem fünften Siegel. Beim Sechsten und Siebten erwarten uns Erdbeben und Stille. Wir müssen es aufhalten.“
„Wo ist Max?“, stellte Mirjam endlich die Frage, die nur schwer über ihre Lippen kam.
„Mir nach!“ Daniel führte sie zu einem Verlies.
Auf der Schwelle zum Kerker zögerte Mirjam. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, sofort zu Max zu laufen, und ließ ihren Blick schweifen.
Max war an einen Stuhl gefesselt und starrte in die Augen des Mannes, vermutlich Tilse, der vor ihm auf den Fersen saß und etwas murmelte. Mirjam horchte. Zuerst konnte sie kein Wort verstehen, so schnell stammelte der Mann, bis sie genügend Fetzen wahrnehmen konnte – er las aus der Thora.
Kristin wedelte mit ihrer Hand vor Max’ Gesicht und wandte sich dann dem Mann zu. Sie hob seinen Arm und ließ ihn fallen, spreizte seine Lider,
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