Staub zu Staub
packte ihn an den Haaren und wollte seinen Kopf gegen die Wand schmettern, als Jonathan sprach:
„Lassen Sie ihn in Ruhe. Das ist die Luzzatto-Thora. Wir werden sie brauchen.“
Tilse ließ von Walters ab und zielte Jonathan ins Gesicht. „Wofür?“
„Ich habe das Gefühl, hier alles zwei Mal sagen zu müssen.“ Er seufzte. „Ich werde Sie in den Prades, den Garten des Ewigen, führen und Ihnen Macht und das gesamte Wissen des Universums schenken.“
„Warum solltest du das tun?“
„Weil das der Wille meines Herrn ist. Ich glaube, auch das habe ich bereits gesagt.“
„Und warum sollte er das wollen?“
„Weil er diese Welt aufgibt.“
Tilses Blick schweifte herum, herrschend über den gefesselten Jonathan, den verletzten Friedmann, über Walters, der daneben kniete und über Schöbel, der an seiner Unterlippe kaute.
„Er gibt mir also Macht und das gesamte Wissen, nur weil er keinen Bock mehr auf uns hat?“
„Ich würde das zwar anders ausdrücken, aber: Ja.“
„Und wo ist der Haken?“
„Der steckt in Ihnen. Es ist Ihre Entscheidung. Sie sind ein Mensch, Sie haben einen Freien Willen und somit immer eine Wahl. Überlegen Sie es sich ganz genau. Was würden Sie dafür tun, ihre Tochter wieder in den Armen zu halten?“ Er lächelte und senkte die Stimme, die Tilse unter die Haut kroch. „Sagen Sie mir, sind Sie
bereit, Macht zu empfangen, Reichtum und Weisheit, Kraft und Ehre, Herrlichkeit und Lob?
“
„Nein!“, riefen Friedmann und Walters gleichzeitig. Noch nie hatte Tilse so viel Angst in den Augen seines Oberhaupts gesehen. Der alte Mann zitterte, seine Atmung ging schneller. „Tilse, um alles in der Welt, tun Sie es nicht! Erinnern Sie sich denn nicht an die Offenba…“
„Halten Sie das Maul!“ Tilse trat ihm mit der Ferse gegen die Wunde. Der Aufschrei erfüllte ihn mit Freude.
„Bitte“, stammelte Walters und klammerte sich an seinen Vater. „Hören Sie nicht auf Max. Er ist der …“
„Ich habe gesagt: Ruhe!“ Tilse ohrfeigte ihn. Die Brille rutsche dem Burschen von der Nase und schlitterte über den Boden. Er drückte Schöbel die Pistole in die Hand. „Wenn mit mir irgendetwas geschieht, gehören die beiden Ihnen.“ Er drehte sich zu Jonathan, der Walters einen wehmütigen Blick schickte. Man konnte glauben, er und nicht der Bursche sei geohrfeigt worden. Was lag ihm so an dem Kerl? Egal. „Hast du verstanden? Keine Tricks. Und jetzt führe mich in den Garten deines Herrn.“
Jegliches Gefühl wich aus den schwarzen Augen, als wäre es nur ein kleiner Moment der Schwäche, der ihn überkommen hatte. Wieder kam es Tilse vor, er starre in zwei leere Höhlen.
„Sie haben sich also entschieden?“, erhob sich seine Stimme von allen Seiten. „Dann rollen Sie die Thora ein Stück auf und setzen Sie sich.“ Tilse gehorchte. „Jetzt denken Sie an etwas Angenehmes, befreien Sie ihren Geist und seien Sie bereit, zu empfangen.“
Tilse schloss die Augen. Er stellte sich die Sonne vor, die sein Gesicht liebkoste, spürte die Wärme, die seinen Körper ausfüllte, atmete tief und langsam.
Kinderstimmen. Lachen. Leise rauscht die Brandung. Seine Hände vergraben sich in den feinen Sand und lassen die Körner zwischen den Fingern rieseln. Strandkörbe, Dünen, das Meer. Kinder wuseln im Sand, spielen Ball. Erwachsene liegen in der Sonne oder tauchen in die Wellen. Weit in der Ferne gleitet ein weißes Passagierschiff vorbei.
Ein Mädchen mit blonden Locken winkt Tilse lächelnd herbei. Sein Dorn-röschen! Sie ergreift seine Hand und zieht ihn zum Meer.
Ich will schwimmen! Schwimmen! Schwimmen!
Eine Frau mit einer großen Sonnenbrille, die die Hälfte ihres Gesichtes verdeckt, lugt aus dem Strandkorb und senkt das Buch in ihren Händen. Die langen Locken, wie die ihrer Tochter, rutschen ihr von den Schultern und verdecken das türkis-blaue Bikini-Oberteil. Sandra, mit ihrer herrlichen Mähne.
Lisa! Aber nur ganz kurz! Und geh nicht zu weit ins Wasser
.
Die Kleine nickt eifrig und zieht Tilse mit sich.
Lass uns schwimmen gehen! Schwimmen! Schwimmen!
Das Wasser kühlt seine Füße und schwappt um seine Waden. Seine Tochter hüpft jeder Welle entgegen und spritzt um sich. Die Tropfen benetzen seine Haut. Er lacht und plantscht zurück. Die Kleine legt sich ins Wasser. Wie ein Hündchen paddelt sie, lässt sich vom Meer schaukeln.
Schwimm nicht so weit raus, will Tilse rufen, als sich ein Schatten über ihn legt. Er hebt den Kopf. Eine riesige Welle baut sich
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