Staub zu Staub
reicht Tilse die Schrift, die von sieben Siegeln aus einem rötlichen Metall verschlossen ist.
Bist du würdig, die Buchrolle zu öffnen und ihre Siegel zu lösen?
Tilse nimmt das Pergament. Er zerrt und rüttelt, doch die Siegel geben nicht nach. Verzweiflung steigt in ihm auf. Nein! Er ist doch schon so weit gekommen!
Die unzähligen Augen scheinen ihn auszulachen.
Tränen fließen über seine Wangen.
Ich kann nicht! Ich kann nicht!
Jonathan legt die Hände auf seine Schultern.
Ich wurde geschlachtet und sollte mit meinem Blut Menschen für Gott erkaufen. Aber du hast den Willen und die Möglichkeit zu besitzen und zu herrschen
.
Kraft pocht durch Tilses Adern. Er hat das Gefühl zu wachsen, höher als der Thron selbst. Mächtig. Gewaltig. Ich! Ich bin heilig. Ich bin der Herrscher! Ich bin würdig, die Herrlichkeit zu empfangen. Und Ehre. Und Macht.
Er fasst das obere Siegel und bricht es. Das Metall zerfällt zu Staub.
Komm!
, donnert eine fremde Stimme und erschüttert alles.
Ein Spalt reißt den Boden auf und ein weißes Ross mit einem Reiter steigt empor.
Kapitel 34
Kristin lehnte sich über den entwurzelten Baumstamm und spähte zur Klostermauer.
„Wie lange sollen wir warten? Mirjam, wir dürfen nicht zulassen, dass Daniel etwas passiert!“
Mirjam lauschte. Die Stille war unheimlich. Kein Lüftchen bewegte die Blätter der Bäume. Kein Tier gab einen Laut von sich.
Verrückt! Das war Selbstmord. Wenn die Sekte sie nicht tötete, dann würde es Max tun, für das, was sie ihm angetan hatte. Sie sollte umkehren, jetzt, sofort, auf der Stelle! Mirjam stand auf. „Wir gehen rein.“ Sie schlich um das Wurzelwerk des Baumes.
Das Sonnenlicht verschwand. Sie warf den Kopf in den Nacken und riss den Mund in einem stummen Ausruf auf. Wie in ihrem Traum verfinsterte sich der Himmel. Noch nie hatte sie solch schwarze Wolken gesehen, die die Sonne verschlangen. Noch nie zogen sie so schnell über den Himmel.
„Irgendjemand hat gerade gehörig Mist gebaut“, hauchte sie. „Aber sehen wir das positiv: Wenigstens waren wir es nicht.“
Noch bevor sie das Tor erreichten, zuckten Blitze über den Himmel und ließen die Umgebung aufleuchten. Nur wenige Sekunden danach rollte ein Grollen. Fast glaubte Mirjam eine tiefe Stimme im Donner zu hören:
Komm!
Die Wolken entluden sich mit gewaltigen Wassermassen. Der Wind prallte Mirjam entgegen, wie eine riesige Faust, die sie niederschmettern wollte. Die Kiefern knarrten und schlugen gegeneinander.
Mirjam konnte kaum noch atmen, rang nach Luft und schluckte Wasser. Sie hatte das Gefühl zu ertrinken, während ihr der Regen ins Gesicht peitschte.
Kristin kämpfte sich zum Tor. Es war offen, aber der Wind presste dagegen, als wolle er den Eintritt verhindern. Nur durch einen schmalen Spalt schlängelten sie sich in den Hof. Mirjam fror und klapperte mit den Zähnen, ihr ganzer Körper verwandelte sich in einen Eisklumpen. Kristin war vorgegangen, drehte sich um und rief etwas. Wild fuchtelte sie mit den Armen. Doch Mirjam verstand kein Wort. Hinter ihr ertönte ein Krachen. Sie fuhr herum. Eine der Kiefern wurde aus dem Boden gerissen und stürzte direkt auf sie zu.
Wie versteinert verfolgte Mirjam den auf sie zu rasenden Stamm. Sie dachte, ihr Leben würde vor ihrem inneren Auge wie ein Film ablaufen, nahm aber nichts wahr außer dem fallenden Baum. Sie kniff die Lider zusammen. Nadeln kratzten über ihr Gesicht.
Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah Zweige dicht über ihr. Die Steinmauer, von Menschenhand erbaut, hatte die Kiefer aufgehalten. Kristins Hand griff durch die Äste und zog Mirjam heraus.
„Bist du verrückt?“, schrie Kristin sie an, aber die Worte klangen erstickt im Sturm. „Pass doch auf!“
Blitze flackerten über den Himmel, vom Donner überrollt. Zusammen mit dem Donner stieg auch die Stimme an, die diesmal den Boden erzittern ließ:
Komm!
„Hast du es auch gehört?“, rief Mirjam. Der Wind drehte sich wie auf der Jagd, umkreiste seine Beute und rüttelte an ihrer Kleidung. Die nasse Kälte durchströmte Mirjam bis in die Knochen.
„Was gehört?“ Kristin zerrte sie zum Haus. Jeder Schritt gegen die Böen kostete Mühe.
Etwas prasselte auf ihren Rücken. Kirschgroße Eisklumpen hagelten auf die Erde herab. Mirjam presste die Zähne zusammen. Nicht aufgeben. Bald würden sie den Eingang erreichen! Sie glaubte fast, die ganze Natur verschwor sich gegen sie und wollte sie aufzuhalten.
Endlich erreichten sie das Portal
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