Staub zu Staub
verantworten
.
„Nein, wartet!“ Mirjam stürmte die Stufen herunter. „Max!“
Er wandte ihr sein Gesicht zu und ein Windhauch wehte ein Wort herbei:
„Mirjam …“
Ein grelles Licht blendete sie.
Dann kam Dunkelheit.
Epilog
Mirjam wachte auf, noch lange bevor der Wecker klingelte. Schweiß klebte an ihrer Haut. Die Haare hatten sich um ihren Hals gewickelt, wie Tang, der sie in den Tiefen der Albträume ertränken wollte. Sie klammerte sich an die Bettdecke und wartete, bis ihr Herz sich beruhigt hatte. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre er durch einen Fleischwolf gedreht worden. Mit jeder Nacht steigerten sich die Schmerzen. Wie lange konnte sie das noch ertragen?
Sie zitterte und blinzelte die dunkle Decke an. Die Schmerzen verebbten, dafür stieg Übelkeit hoch. Ihr Geruchssinn schien sich mit jedem Tag zu verschärfen, sie nahm den Gestank des Mülleimers aus der Küche wahr, den sie schon gestern hätte rausbringen sollen.
Endlich fand sie die Kraft, sich aufzurichten. Mirjam schob ihre Beine über die Bettkante und tastete nach ihren Hausschuhen. Einen fand sie sofort, der andere fehlte, dafür holte sie mit den Zehen ihren BH hervor.
Jeden Tag begann sie mit einem Ritual, das sie peinlich genau einhielt. Nach dem Schacharit, ihrem Morgengebet, während sie noch in Richtung Osten stand und die Misrach-Tafel anschaute, fügte sie hinzu:
„Bitte, gib ihn mir zurück.“
Mirjam fragte sich nicht mehr, ob es anmaßend war, den Ewigen um so etwas zu bitten. Zumal sie Seinen Willen kannte. Bei jedem Gebet erglomm ein Funke Hoffnung und sie lauschte auf die Stimmen, aber sie blieben stumm und der Funke erlosch wieder.
Ihr Ritual ging weit über die Gebete hinaus. Sie schritt zu einem hüftgroßen Tisch neben dem Fenster, den ein Spitzendeckchen zierte, und nahm die Streichholzschachtel. Mit dem Zeigefinger schob sie den Behälter auf und schüttete den Birkenspanner auf ihre Handfläche. Lange musterte sie das vertrocknete Insekt. Ihr Atem ließ die zerknitterten Flügel erzittern und es kam ihr vor, als würde der Schmetterling gleich fliegen.
Jedes Mal legte sie den Falter zurück, bevor Tränen in ihre Augen traten. Weinen durfte sie sich nicht erlauben. Damit hätte sie allein nicht aufhören können und weitere zwei Wochen in der Klinik wegen posttraumatischer Belastungsstörung – oder schlicht Nervenzusammenbruch – wollte sie nicht verbringen.
Ihre Verbindung zur Außenwelt stellte seit fast drei Wochen nach der Ent-lassung Kristin dar. Sie rief täglich an und jeden zweiten Tag schaute sie vorbei. Einige Male hinterließen auch ihre Eltern eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, aber Mirjam fand noch nicht die Kraft, zurückzurufen oder sie zu sehen. Bald würde sie das, nahm sie sich vor. Am kommenden Schabbes könnten sie alle zum Abendgottesdienst gehen und anschließend zu Hause feiern. Nicht wie früher – nichts konnte wie früher sein –, aber wieder zusammen.
Mirjam verließ ihre Wohnung. Ein innerer Drang führte sie zur S-Bahnstation. Wie ferngesteuert stieg sie am Hauptbahnhof aus und reihte sich in den Menschenstrom ein, der die Treppe hinauf flutete. Einige Meter vor ihr erblickte sie einen Mann. Er trug einen dunkelblauen Anzug, hob die Hand und kämmte sich sein rabenschwarzes Haar nach hinten.
„Max!“, rief sie.
Die Menschen wandten die Köpfe, der Mann aber nicht. Er verschwand. Vielleicht hatte er das Bahnhofsgebäude verlassen. Vielleicht war es auch nur Einbildung, weil sie sich so sehr wünschte, jemanden zu sehen, der Max ähnlich sah.
Nach etwa vierzig Minuten stand sie in der Eingangshalle des Pflegeheimes.
Was wollte sie hier, an diesem unscheinbaren Ort, wo alles begann? Sie lauschte, doch keine Geigenklänge streichelten ihr Gehör. Im Korridor, in den die wenigen Stufen und eine Rampe von der Eingangshalle führten, sah sie die Oberschwester vorbeihuschen. Fast glaubte Mirjam, die raue, immer gehetzt wirkende Stimme zu hören:
Ach! Du wirst übrigens abgeholt. Ich habe ihn erst mal in den Gemeinschaftsraum geschickt
. Und vor ihrem geistigen Auge sah sie Max im Gemeinschaftsraum mit Helga und Heinz Skat spielen, wie er vor dem Tischchen im Schneidersitz saß und einen Erdbeerlolli lutschte. Aber die Oberschwester eilte vorbei, ohne Mirjam auch nur zu bemerken.
Dafür stieg Kristin die Stufen hinunter. Sie hastete zu ihr und umarmte sie. „Süße, was machst du denn hier?“
Mirjam sog den Magnolienduft ein. „Ehrlich gesagt – keine
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