Staub zu Staub
Ahnung.“ Sie beäugte Kristins Alltagskleidung. „Und wo willst du hin? Machst du schon Feierabend?“
„Ich muss Daniel zur Dialyse bringen.“
Mirjam löste sich von ihr. Erst jetzt fiel ihr ein, in all den Wochen kein einziges Mal nach Daniel gefragt zu haben.
„Ist er … wie … wie geht es ihm?“
Kristin senkte den Blick. „Seine Nieren haben versagt. Sie filtern keine Schadstoffe mehr aus dem Blut, so muss er drei Mal die Woche für fünf Stunden ins Krankenhaus, um sein Blut zu reinigen. Es wird ihm praktisch abgepumpt, gefiltert und wieder eingeflößt. Das schlägt auf seinen Kreislauf, aber was kann man da schon tun. Wenigstens hat er keine Hustenanfälle mehr, wie damals im Hotel. Er bekommt Medikamente, die ihm ein wenig Zeit verschaffen sollen.“ Sie wischte sich die verräterischen Tränen aus den Augen. „Entschuldige. Ich … ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle.“
Mirjam umarmte Kristin. „Du bist stark. Max beim Sterben zu begleiten hätte ich nicht verkraften können.“ Kristin begann zu zittern, und sie biss sich auf die Unterlippe, um selbst nicht aufzuheulen. „Weine nicht. Bitte nicht. Bitte.“
Sie dachte an das Licht, das Max ihr geschenkt hatte, als hätte er damals geahnt, nicht mehr dazu kommen zu können. Wenn sie nur wüsste, wie sie Daniel damit heilen konnte! Sie würde ihm ihr ganzes Licht, ihre ganze Energie schenken.
Die Eingangstür schlug und Carsten Born kam herein. Als er Kristin erblickte, wurde er sichtlich kleiner, wie ein Hase, der vor Schreck erstarrt.
„Ich weiß, es sind keine Besuchszeiten“, lispelte er durch seine leicht hervorstehenden Zähne. „Aber …“
Kristin winkte ab. „Gehen Sie schon zu Ihrer Mutter. Lassen Sie sich nur nicht von der Oberschwester erwischen.“
Verwirrt blickte er zu ihr und wischte seine Handflächen an der verblichenen Jeans ab. „Ich kann wirklich nur jetzt, verstehen Sie, denn …“
„Ich habe doch gesagt: Gehen Sie ruhig.“
Sein Gesicht erhellte sich. Er taumelte von einem Fuß auf den anderen. „Oh, vielen Dank! Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue. Wissen Sie …“
„Ja, schon gut.“ Kristin drehte sich Mirjam zu. „Ach, hab fast vergessen. Bertram will mit dir reden.“
Mirjam hielt inne und der Hoffnungsfunke, der seit ihrem Morgengebet kalt in ihr herumschwebte, glimmte auf. „Friedmann? Hat er die Lösung gefunden?“
„Das hat er mir nicht gesagt. Ich hole dich heute ab und fahre dich zu uns, in Ordnung?“
„Nein, nicht nötig. Ich finde allein hin. Wirklich. Ich bin schon ein großes Mädchen.“
Kristin hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. „Dann sehen wir uns heute Abend.“
Mirjam blickte ihr nach, wie sie hinter der Tür verschwand, und realisierte erst dann, dass Carsten noch immer neben ihr stand. Sie hob fragend eine Augenbraue und er lief rot an.
„Ähm. Wissen Sie, Sie kümmern sich so hingebungsvoll um meine Mutter. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken kann.“
„Ich arbeite hier nicht mehr.“ Mirjam wandte sich zum Gehen. Carsten sprang ihr in den Weg.
„Warten Sie! Ähm. Tja. Hätten Sie vielleicht Zeit … und Lust … nun …“ Er knetete seine Finger. „Mit mir Kaffee zu trinken?“ Fast flüsternd fügte er hinzu: „Das würde mich so sehr freuen.“
Mirjam sah in seine grauen Augen, die vor Hoffnung strahlten, und presste die Zähne zusammen.
„Das geht nicht“, gab sie mit unnötiger Härte zurück.
Er nickte zerknirscht und wirkte wieder wie ein erschreckter Hase. „Verstehe. Entschuldigung“, stotterte er, während Mirjam darüber nachdachte, dass in ihrer Gegenwart bisher noch keiner in Angst erstarrt war.
Kurz nach achtzehn Uhr stand Mirjam vor Friedmanns Haus. Sie lehnte sich an die Kastanie und drückte ihre Wange gegen die Rinde. Wie seltsam. Ihre Trauer verschlang alle Gefühle, sie konnte nicht einmal hassen.
Nachdem sie das Tor passiert hatte und an Kristins Wagen vorbeikam, sah sie Daniels Mutter neben Fuchsien knien und Unkraut zupfen. Eine schlaksige Frau, deren Bewegungen wirkten, als hätten sich in ihren Gelenken die Schrauben gelockert.
Die Frau sprang auf die Beine und streifte Gartenhandschuhe von den Händen.
„Ach, Mirjam! Wie schön dich wiederzusehen.“ Sie eilte zur Tür und öffnete. „Komm rein. Hast du Durst? Möchtest du vielleicht etwas essen? Ich habe noch Schweinemedaillons übrig.“
Angewidert verzog Mirjam das Gesicht. „Nein, danke.“ Sie gab sich Mühe, die Frau weitestgehend
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