Staub zu Staub
hatte aufgegeben. Im Inneren war er bereits tot. Wie oft spürte Mirjam bei seinem Anblick das Licht in sich pulsieren, es nach einem Weg aus ihr suchen. Das Licht eines Engels, das seinen Augen den Glanz zurückgeben konnte.
Kristin klemmte seinen Pony zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Morgen kaufe ich dir ein hübsches, rosafarbenes Schleifchen.“
„Vielleicht“, wandte Mirjam ein, „gibt der Ewige uns Zeit, damit die Menschen ihre Fehler erkennen? Womöglich ist es nicht zu spät, um diese Welt zu retten.“ Sie drehte sich zum Fenster. Wie zur Bestätigung ihrer Worte kam Sonne durch den Wolkenschleier und schenkte ihre Wärme der Madagaskarpalme auf dem Sims.
„Vielleicht“, erwiderte Daniel. „Aber was das Erkennungsvermögen der Mensch-heit angeht, bin ich sehr pessimistisch. Nur gut, dass ich die ganz schlimmen Sachen nicht mehr erleben werde.“
Kristin gab ihm einen Klaps auf die Stirn. „Hör auf mit dem Quatsch!“
Er verstummte, aber seine Worte blieben im Raum hängen wie kalter Zigaretten-geruch.
Mirjam zögerte. „Wurde eigentlich Schöbel schon gefasst?“
„Nein.“ Kristins Finger begannen zu beben und Mirjam bereute, die Frage gestellt zu haben. „Ich will wenigstens wissen, wo meine Mam ist, um sie anständig zu begraben. Mirjam? Bist du sicher, dass sie tot ist? Bist du dir da wirklich sicher?“
„Ich habe sie zwischen den Klagenden gesehen.“ Sie schwieg kurz. „Warst du wenigstens schon in deiner Wohnung?“
„Daniel war dort. Ich traue mich nicht.“ Sie streichelte ihn. „Aber ich fühle mich auch hier wohl.“
Die Treppe knarrte und Friedmann schlenderte ins Wohnzimmer mit Büchern und Papieren in den Händen. Er stellte seine Last ab und breitete die Notizen aus.
Mirjam sprang auf. „Und? Haben Sie etwas für mich?“
„Ja. Die Erkenntnis, dass wir aufhören müssen, zu suchen.“
„Was? Sie geben auf?“
Er zog einen Stuhl heran. „Kristin hat erwähnt, Sie haben Albträume. Sie sehen einen scharlachroten Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörner auf jedem.“
„Der Drache kommt nicht mehr. Das letzte Mal habe ich ihn in der Nacht gesehen, nachdem Max die Thora geholt hat. Jetzt geht es um mich in den Albträumen.“ Mirjam tigerte vor dem Tisch umher, ohne die Zettel auf dem Boden zu beachten. Sie raschelten unter ihren Füßen wie Herbstblätter. „Heute habe ich mich in einem leuchtenden Hemd vor einem Spiegel sitzen sehen. Unter meinen Füßen liegt eine silbern schimmernde Fläche, die bis in die Unendlichkeit reicht. Ich kämme mein Haar. Mein Nachthemd leuchtet golden. Ich nehme Sterne vom Nachthimmel und flechte sie in meine Locken ein, insgesamt zwölf. Und als ich den Letzten befestigt habe, kommen Schmerzen, als würde etwas meinen Bauch zerreißen, als wolle etwas aus mir schlüpfen.“
Friedmann zog die Bibel heran, öffnete die letzten Seiten, blätterte zurück und las:
„
Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen
.“
Mirjam blieb abrupt stehen. „Bitte?“
Friedmann hob den Zeigefinger. „Moment. Es geht weiter.
Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war
. Offenbarung des Johannes, Kapitel zwölf, ‚Die Frau und der Drache’.“
Mirjam leckte sich über die rauen Lippen. Ihr Mund war wie ausgedörrt.
„Kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrer Offenbarung an!“ Sie ergriff Kristins Glas und leerte es in einem Zug. Das bisschen Wasser glitt in ihre Kehle wie Tropfen in Wüstensand.
Kristin umschloss Daniels Finger, der die Augen zugemacht hatte und zu schlafen schien. „Ich verstehe das nicht. Soll Mirjam diese Frau aus der Offenbarung sein? Aber sie ist doch nicht schwanger.“
Mirjam stellte das Glas ab und stützte sich gegen den Tisch. „Doch, das bin ich.“
„Was?“, japste Kristin. „Wie? Seit wann?“
„Seit unserem ersten Mal. Ja, du behauptest, ich wäre damals nur high gewesen, weil ich mit Max’ Blut in Berührung gekommen bin, und in Wirklichkeit ist nichts passiert. Aber ich weiß es besser.“ Sie strich sich über den
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