Staub zu Staub
Mirjam. „Wir werden auch ganz leise reingehen.“
Er drehte den Schlüssel im Schloss. Seine Abweisung drang nur gedämpft hindurch. „In der Pause, das ist doch nicht schwer zu verstehen!“
Kristin schlug gegen das Glas. Der Mann schielte über die Schulter und setzte seinen Weg fort, ohne das Trommeln gegen die Scheibe zu beachten.
„Hör auf.“ Mirjam hielt sie zurück und ging nach draußen. „Sonst kommen wir nicht einmal in der Pause rein.“
„So ein Mistkerl!“ Kristin nahm ihre Spange aus dem Haar und steckte die Locken wieder hoch. „Er hat uns die Tür mit Absicht vor der Nase zugemacht.“
Einige Strähnen blieben an ihrer verschwitzten Stirn und am Hals kleben. Sie wischte sich über das Gesicht und verschmierte ihr Make-up. Mirjam wollte Kristin gerade ein Taschentuch reichen, als neben sie eine Stimme hörte.
„Is ja halb so wild. Der Höhepunkt kommt erst im zweiten Teil.“
An der anderen Seite des Eingangs saß ein Mann auf einer Zeitung, der tiefe V-Ausschnitt seines ausgeleierten Pullovers stellte eine behaarte Brust zur Schau. Unzählige Fettflecke zierten seine Khakihose. Neben ihm lag ein Schäferhund mit gelblichem Fell und schlief. Das Gekritzel auf dem Kartonschild bat um Spenden.
Mirjam trat näher. Es miefte ihr entgegen und sie rümpfte die Nase. „Welcher Höhepunkt?“
„Der Geiger. Die meisten kommen wegen ihm.“
Sie holte einen Euro aus der Jeanstasche und warf ihn ins Tellerchen zu den Centstücken, die nicht einmal den Boden bedeckten. Der Mann neigte den Kopf.
„Merci, die Dame.“
„Dieser Geiger.“ Mirjam ging in die Hocke. „Helmgren. Erzählen Sie mir was von ihm?“
Gemächlich nahm der Obdachlose eine Plastikflasche und schraubte die Kappe auf. Während er trank, rann ihm Flüssigkeit über das unrasierte Kinn und hinter-ließ Rinnsale auf der schmutzigen Haut.
„Nett. Sehr nett.“ Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und stellte die Flasche beiseite. „Hat Rocker zum Tierarzt gebracht, im schicken Auto mit Ledersitzen und allem Schickimicki. Ich hatte nich mal mitgekriegt, dass es dem Großen schlecht geht. Zum Glück ist alles gut gegangen. Was hätte ich denn ohne meinen Großen gemacht?“ Er kraulte das Tier hinter dem Ohr. „Und die Knete hat der auch bezahlt. Na, Rocker? Den Geiger magst du doch auch, oder?“ Der Köter öffnete ein tränendes Auge und schlug mit dem Schwanz auf die Zeitung. „Er hat’s wirklich weit gebracht. Auch wenn sein Leben kein Zuckerschlecken war. Stimmt’s Rocker?“ Der Mann formte einen Kussmund, beugte sich zum Tier und schmatzte. Der Hund schlabberte ihm über das Gesicht.
„Wie ist es ihm denn ergangen?“, fragte Mirjam.
Der Obdachlose rieb sich sein Ohrläppchen. „Man hört hier so einiges. Wenn die anderen über ihn herziehen. Rattenfänger nennen sie ihn.“
Kristin hob eine Augenbraue. „Rattenfänger? Wieso denn Rattenfänger?“
„Haben Sie ihn spielen gehört? Er weckt Träume. Ängste. Leidenschaft. Dat haut rein, sag ich. Mit zehn hat er damit angefangen.“ Der Obdachlose machte die Bewegungen eines Bogens nach. „Andere ackern schon mit vier wie blöde und haben nich mal die Hälfte drauf.“
„Das ist aber reichlich spät – mit zehn“, bemerkte Mirjam.
„In einem Kinderheim kriegt man nicht gleich eine Geige in die Hand gedrückt. Aber was lästere ich da. Tststs.“ Er tadelte mit dem Zeigefinger. „Dat macht man nich, ne?“
Obwohl Mirjam sich bemühte, das Gespräch wieder auf den Geiger zu lenken, konnte sie nur erfahren, dass heute Ungarische Tänze von Brahms auf dem Programm standen.
Als der Türsteher endlich aufsperrte und mit grimmigem Gesicht die Karten anriss, kämpften sich Mirjam und Kristin durch die Menschenmassen nach oben zu ihren Billigplätzen. Auf der Bühne stimmten Musiker ihre Instrumente,bis das Licht endlich gedimmt wurde. Der Geiger musste die Bühne betreten haben, denn auf einmal wallte Applaus durch den Saal, einige im Publikum standen jubelnd auf und versperrten die Sicht.
Mirjam lehnte sich zurück. „Meine Güte, er hat doch kein Wort gesagt.“
Kristin grinste. „Süße, er wird auch nichts sagen. Er wird spielen.“
„Da bin ich aber gespannt.“ Mirjam musterte die goldenen Pfeifen der Orgel am Ende der Bühne, das Einzige, was sie von ihrem Platz ungehindert sehen konnte. Bald beruhigte sich das Publikum und die Töne einer Geige schwangen zu ihr. Die Musik wob einen Schleier, schwirrte in der Halle und kroch unter
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