Staub zu Staub
verschmelzen, werden wir …“
Walters grunzte. „ … wissen, wie man unseren Jesus um die Ecke bringt.“
Tilse rieb sich die Stirn. Idiot. Kabbala, der Weg zu Gott, Allmächtigkeit - das gab einem so viel mehr! Wer würde sie dann noch aufhalten können? Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Natürlich. Das war die Lösung. Nicht nur nach seinem Abbild erschaffen, sondern
Er
zu sein.
„Ohne ein tiefes Verständnis“, fuhr Friedmann nüchtern fort und schlug das Buch zu, „ist es höchst gefährlich, den eigenen Geist auf diesen Weg zu schicken. Und uns bleibt nicht viel Zeit.“
„Was wollen wir dann tun?“ Walters griff wieder nach den Zigaretten, doch Friedmanns ermahnender Blick veranlasste ihn, die Schachtel in der Tasche zu lassen.
„Die Erkenntnisse der theoretischen und buchstäblichen Kabbala, all das, was die Gelehrten vor uns herausgefunden haben, müssen wir uns erarbeiten. Und noch mehr: weiter gehen, als je einer zuvor. Dies wird die ganze Energie unserer Organisation erfordern, jeder Einzelne muss sich damit auseinandersetzen. Zusammen können wir es schaffen. Was die meditative Kabbala angeht - nun, da haben wir unseren Messias. Er ist ein Teil der Dreieinigkeit. Bringen wir ihn doch dazu, uns den rechten Weg zu weisen.“ Er grinste. „Das kann er ja so gut.“
Walters kicherte. „Abgesehen davon, dass ich es mir ziemlich schwierig vorstelle, den Sohn Gottes zu irgendetwas zu zwingen, würde sein Papa“, er blickte gen Himmel, „ nicht versuchen, uns aufzuhalten?“
„Natürlich wird er das“, erwiderte Friedmann ruhig. „Wie alle anderen vor uns. Doch Menschen sind wie Kakerlaken. Einmal da, sind sie nicht mehr zu vertreiben. Wir haben die Sintflut überlebt, mit etwas Verstand schaffen wir es auch weiter.“ Er schmunzelte. „Wie oft hat der Schöpfer versucht, uns zu vernichten? Vergessen Sie die Märchen über den Teufel. Gott bekriegt nicht ihn. Sondern uns, weil wir göttlich sind. Und der entscheidende Kampf steht unmittelbar bevor.“
Walters schaute aus dem Fenster. „Es ist irgendwie gruselig sich vorzustellen, dass irgendwo da draußen der Sohn Gottes herumläuft.“
Kapitel 4
Schon von weitem sah Mirjam Kristin vor der Staatsoper an einer der Säulen warten, deren Farbe unter der Staubschicht Gold sein sollte. Kristin trug ein schwarzes Kostüm mit einem weiten, langen Oberteil, das ihre Speckröllchen kaschierte, und Samtschuhe mit Pfennigabsätzen. Eine Silberspange hielt ihr karottenfarbenes Haar hoch und nur einige Strähnen fielen ihr auf die Schultern.
„Du siehst traumhaft aus“, hauchte Mirjam. Sie selbst hätte sich doch etwas mehr Mühe mit ihrem Outfit geben können und nicht nur die Jeans, die sie schon waschen wollte, aus dem Korb ziehen und sich schnell in eine Strickjacke zwängen sollen.
„Höchstens wie ein Trauma. Alle fragen, wo ich dieses Zelt her habe.“ Kristin lachte und drückte sie an sich, als wären sie schon jahrelang befreundet. „Schön, dass du da bist. Ich dachte, du kommst nicht mehr, es ist schon zehn vor acht.“
Die Nähe überraschte Mirjam und sie ging auf Distanz. „Entschuldige, dass du so lange warten musstest.“ Sie trat vor die dunkle Glasfront des Gebäudes und drückte ihre Nase gegen die Scheibe. Ihr Atem beschlug die Oberfläche. „Müsste hier nicht etwas mehr los sein? Bist du sicher, dass sie heute spielen?“
Kristin holte die Eintrittskarten hervor. „Jep. Zwanzig Uhr. Hamburger Philharmoniker, die Laeiszhalle.“
Eine fremde Frauenstimme ließ Mirjam sich umdrehen. „Die Musikhalle ist doch nicht hier.“ Eine Passantin mit prallgefüllten Einkaufstüten blieb vor ihr stehen. „Johannes-Brahms-Platz. Sehen Sie die Straße rechts? Da lang und immer gerade-aus.“
Mirjam schaffte es noch, ihr ein ‚Danke sehr!’ zuzurufen, bevor Kristin sie an der Hand gepackt hatte und losdüste.
„Warte“, keuchte Mirjam. „Ich kann nicht mehr.“ Sie bekam Seitenstechen, ihre Schritte verlangsamten sich, doch sie wurde unbarmherzig weitergeschleppt.
„Klappe zu und gib Gas!“ Kristin steuerte auf das neobarocke Gebäude mit gusseisernen Zierbalkonen zu. Endlich erreichten sie den Eingang und stürmten durch den Vorraum. Oben auf der Treppe schloss ein junger Mann im Anzug eine gläserne Tür von innen.
„Halt!“ Kristin wedelte mit den Eintrittskarten.
„Nach Beginn der Vorstellung – Einlass nur in der Pause“, erwiderte er mit auf Freundlichkeit dressierter Stimme.
„Bitte!“, flehte
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