Staub zu Staub
er kaum geschlafen. In seinen Träumen hörte er sein Dornröschen nach ihm rufen, suchte sie im Nebel, der ihn erstickte. Als er aufwachte, tastete er nach Sandra, bekam aber nur das kalte Laken zu fassen.
Seine Gedanken schweiften zum vergangenen Tag und dem ersten Abend in Einsamkeit. Im Büro konnte er sich nicht konzentrieren, hatte aber nicht gewagt, früher nach Hause zu gehen. Es hätte ihm das Herz zerrissen, mit ansehen zu müssen, wie Sandra ihre Sachen packte und Lisa aus seinem Leben entführte. Erst gegen neunzehn Uhr vergaß er den Grund seines Kummers und eilte nach Hause, um seiner Tochter noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen zu können. Doch als ihn die stille Wohnung anstatt Lisas Stimme begrüßte, wurde ihm der Verlust wieder bewusst. Die Räume sahen wie gewohnt aus, Sandra hatte nur ihre Kleidung und Lisas Spielzeug mitgenommen, trotzdem wirkten die Zimmer tot.
04:35
Durch die Tür zum Wohnzimmer sah Tilse auf die Salzkristalllampe, die am Boden orange schimmerte. Er hatte sie eingeschaltet, zum ersten Mal für sich und nicht sein Dornröschen, weil die Dunkelheit ihm Unbehagen einjagte. Sein Handy läutete. Zwanzig vor fünf! Er vergrub den Kopf unter dem Kissen, doch das Klingeln drang mühelos durch die Daunen. Er knurrte, richtete sich auf und das Läuten verstummte. Gerade wollte er zurücksinken, da klingelte es erneut.
„Ich glaub’s nicht!“ Tilse warf die Decke zur Seite und latschte ins Wohnzimmer. „Ja?“, brüllte er ins Handy.
„Sie werden gleich Besuch bekommen. Mit besten Grüßen aus Schweden.“
Aufgelegt.
Tilse blinzelte den Apparat in seiner Hand an.
Schweden.
Schweden!
Hätte er das geahnt, wäre er schon beim ersten Ton aus dem Bett gesprungen. Er lief ins Schlafzimmer und wühlte im Schrank nach einem Morgenmantel, aber es surrte bereits am Hauseingang. In Boxershorts und Unterhemd hastete er in den Flur und drehte am Schloss. Im Treppenhaus flackerten die Lampen auf. Über den eiskalten Boden schlich er zum Geländer und spähte hinunter, erkannte jedoch nur einen grünen Jackenärmel und eine mollige Hand.
„Moin, moin!“ Der Besucher wischte sich mit dem Ärmel über die Glatze. „Puh. Heute kann ich mir meinen 10-Kilometer-Lauf sparen, ne?“
Tilse musterte ihn vom Glatzenansatz bis zu den braunen Schuhen. Seiner fettleibigen Statur nach würde der Mann nicht mal eine Hundertmeterstrecke überstehen, ohne zusammenzubrechen. Der Dicke putzte die Sohlen auf der Fußmatte ab und marschierte in den Flur.
„Ja, kommen Sie doch rein“, brummte Tilse, während der Besucher schon die Jacke auszog und sie über den Garderobenständer warf. Nach einer kurzen Rund-uminspektion steuerte der Gast auf das Wohnzimmer zu, knipste die Stehlampe an und ließ sich auf das Ledersofa fallen.
„Na, da haben Sie uns was aufgetragen!“ Er öffnete den Verschluss seiner Tasche, die genauso mitgenommen aussah wie seine Schuhe, und knallte einen Stapel Mappen auf den Couchtisch. „Lebenslauf. Krankenakten. Polizeiakten. Schulakten. Hm, was ist denn das?“ Er linste in ein Fach der Tasche und zog eine dünne blaue Mappe hervor. „Ach, meine Notizen. Da gibt es Sachen, wo keine Sau durchblickt, he-he.“
Tilse schleifte einen Stuhl heran. „Und das alles ist über den Geiger?“
„Nee, über den König Mswati III. aus Swasiland. Natürlich über den Geiger. Oder haben Sie es sich anders überlegt?“
„Sie vergessen wohl, mit wem Sie sprechen!“
Der Mann zog einen Mundwinkel hoch und entblößte einen Schneidezahn. „Na, etwas gereizt heute Morgen? Schlecht geschlafen?“
Der Besucher sah ihn frech an und Tilse gab insgeheim zu, in Boxershorts keine Wirkung erzielen zu können.
„Was war da mit den Polizeiakten? Hat er eine Bank überfallen?“
„Als ob er das nötig hätte, bei seinen Gagen. Mensch, da ist mein Monatsgehalt nur ein nettes Taschengeld im Vergleich. Zugegeben, der Kerl ist wirklich groß-artig. Wussten Sie, dass der König von Schweden zu seinen Fans gehört?“
„Es ist mir egal, wer zu seinen Fans gehört! Sie sind nicht zum Kaffeekränzchen hier.“
„Okay, okay. Der Junge wurde vor siebzehn Jahren bewusstlos aufgefunden. Vor dem Universitetsjukhus in Örebro, am Söder Grev Rosengarten, wenn wir genau sein wollen. Keine Papiere und niemand, der ihn identifizieren konnte. Sein Alter wurde auf sieben geschätzt.“
Tilse zuckte nach vorn. „Hatte er Verletzungen an den Gelenken?“
Der Besucher blätterte in der Akte. „Nö.
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