Staub zu Staub
sollte er jetzt sagen, damit der alte Mann nichts von Jonathan erfuhr?
„Ja, nun.“ Er rückte den Garderobenständer zurecht und trat den verrutschten Teppichläufer platt. „Sie ist … tja …“
Friedmann ging weiter in den Flur, blieb neben dem Wohnzimmer stehen und schaute beiläufig hinein. Tilse erstarrte. Hatte der Spiritus Rektor von der Infor-mationsbeschaffung hinter seinem Rücken erfahren? Die grauen Augen funkelten Tilse an.
„Sie lassen nach. Vielleicht hätten Sie bei Ihren Kreuzigungsaufgaben bleiben sollen. Sie können das doch so gut – Nägel in Gelenke schlagen.“ Wieder ein Blick ins Wohnzimmer.
Die Mappen! Sie lagen auf dem Couchtisch und präsentierten ihren Inhalt. Tilse schob sich zwischen sein Oberhaupt und das Wohnzimmer. „Ich werde mich mit ihr beschäftigen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
„Nicht nötig.“ Friedmann wandte ihm den Rücken zu. „Ich habe Köhler be-auftragt, das Mädchen aus dem Weg zu räumen. Noch heute. Er nimmt Walters mit, der Bursche soll endlich zeigen, was er kann.“
„Walters? Aber er ist noch nicht lange in der Organisation und wenn Sie mich fragen – absolut unfähig. Er wird versagen.“
Friedmann schob seine Brille auf dem Nasenbein hoch. „Blut, besonders an den Händen, verbindet. Und Köhler macht seine Sache gut, er hat viel gelernt in diesen Jahren.“ Tilse spürte Friedmanns Hand auf der Schulter. „Vertrauen Sie mir.“ Die Stimme klang fast sanft. „Walters wird mich nicht enttäuschen wollen.“
„Wie Sie meinen. Was gibt es Neues über die Kabbala?“, wechselte Tilse das Thema.
Friedmanns graue Augen glänzten. Fanatisch, wie es Tilse vorkam. „Oh. Wir haben hervorragende Erkenntnisse erzielt. Sagt Ihnen der Name Rabbi Mosche Chajim Luzzatto irgendetwas? Ein großartiger Gelehrter! Aber wir sprechen später darüber. Jetzt muss ich noch ins Büro und dann ins Generalvikariat.“
Tilse schloss die Tür hinter ihm ab und schleppte sich in die Küche.
Sie lassen nach
, hallte Friedmanns Stimme in seinen Ohren. Der alte Mann hatte ihn sicherlich nicht einfach so um diese Uhrzeit besucht. Wollte sein Oberhaupt ihn abschaffen? Was fiel ihm ein? Tilse goss Kaffee in die Tasse. Keiner hatte der Organisation so viel gegeben wie er!
Nein, das durfte er nicht zulassen. Er musste Jonathan in die Finger kriegen, und zwar noch vor Friedmann. Insulin könnte um einiges wirksamer sein als Kabbala. Es dürfte kaum schwer sein, sich an den Geiger heranzuschleichen und ihm den Stoff mit einem Pen zu injizieren. Tilse verzog das Gesicht und beschloss, eine Karte für das nächste Konzert der Hamburger Philharmoniker zu besorgen. Er hasste Klassik.
Kapitel 9
Endlich Feierabend! Mirjam lief den Flur entlang und klimperte aufgeregt mit den Schlüsseln zu ihrem Spind im Umkleideraum. Den ganzen Tag hatte sie fast jede Minute zur Uhr geschaut. Noch nie kamen ihr die Zeigerbewegungen soschleichend vor. Aber jetzt hatte das Warten ein Ende. Sie würde Max wieder-sehen! Und noch besser: Sie würde mit ihm eine Reise ins benachbarte Bundesland machen. Ihr Herz hüpfte wie ein Flummi und sie selbst wäre zu gern mitgehüpft.
Auf einmal stieß sie gegen eine weiche Masse und erst als sie verwirrt aufblickte, registrierte sie Kristin.
„Na?“, erklang von oben die Stimme. „Seit wann springen wir hier wie über-geschnappte Bergziegen herum?“ Noch während Mirjam nach einer Antwort suchte, fuhr Kristin fort. „Sieh bitte nach Wittler. Er fühlt sich heute nicht wohl. Und Frau Ackermann möchte draußen eine Runde spazieren gehen.“
„Aber ich habe Feierabend“, stöhnte Mirjam und schaute zur Uhr, die über dem Ausgang die Sekunden abklapperte. In Gedanken sah sie sich schon Max auf dem Handy anrufen und das Treffen absagen. Würde er jemals Zeit für ein neues haben?
Kristin pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich weiß, aber ich überschlage mich hier förmlich. Sieh bitte nach Wittler. Das dauert ja nicht lange.“
Mirjam ließ die Arme sinken. Mit Wittler dauerte alles lange, sogar wenn er nur seine Füße in die Hausschuhe stecken sollte. Und einfach ihren Job schnell zu erledigen, um danach den Alten im Regen stehen zu lassen, hätte sie nicht übers Herz gebracht. Wenn schon etwas tun, dann mit Hingabe. Also, das Treffen absagen? Mirjam schaute zu Kristin auf und ergriff ihre Hände, eine Geste, die ihr vor wenigen Tagen nicht einmal in den Sinn gekommen wäre. „Bitte“, hauchte sie und stellte sich auf
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