Staub zu Staub
Keine Verletzungen. Anscheinend hatte er einen starken Blutverlust erlitten, bevor er gefunden wurde. Er fiel ins Koma, bis die Ärzte keine Gehirnströme mehr feststellen konnten und die Maschinen abschalten wollten. Aber der Junge wachte doch noch auf. Ein Wunder, ne? Wie auch immer, die Ärzte stellten bei ihm eine Amnesie fest.“
„Amnesie?“ Tilse sprang auf. „Er leidet unter Amnesie?“
Der Dicke pustete seine Rotbäckchen auf. „Hab ich doch gerade gesagt.“
Tilse achtete nicht auf die Bissigkeit im Ton des Gastes. Ganz andere Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Der Sohn Gottes ohne Gedächtnis? Gütiger Himmel! Wenn das stimmte, wäre er absolut unberechenbar mit seiner Macht, als würde man einem Kind eine Atombombe zum Spielen geben. Wusste er über-haupt von seinen Kräften?
Der Dicke schlug ein Bein über das andere. „Er hatte unser Zeichen bei sich.“
„Wie bitte?“ Tilse krallte sich in die Stuhllehne.
„Das Kreuz.“ Die molligen Fingerchen fummelten einen goldenen Anhänger aus dem Ausschnitt des Flanellhemdes. „Inter spem et metum.“
„Zwischen Hoffnung und Furcht.“ Tilse rieb sich den Buckel seiner Nase. „Preschke. Verfluchter Narr! Was hat er bloß gemacht?“
„Scheiße hat er gebaut.“ Der Mann ließ das Kreuz unter seinem Hemd ver-schwinden und griff wieder nach der blauen Mappe. „Aber kommen wir zum Wesentlichen - wie der Junge funktioniert.“
„Und das wissen Sie?“
„Jein. Selbst die moderne Forschung konnte nicht alle Fakten erklären, es sind bloß Vermutungen, aber was hier steht“, er fuchtelte mit der Mappe und Tilse spürte einen Luftzug auf dem Gesicht, „haut einen echt von den Socken.“ Der Dicke machte eine theatralische Pause. „Sein Blut ist eine Suppe aus embryonalen Stammzellen. Sie sind nicht ausdifferenziert! Es ist der Hammer.“
„Und das bedeutet – was?“
„Das bedeutet, sie können sich asymmetrisch teilen. Verstehen Sie?“
Im ersten Moment wollte Tilse nicken, um nicht seine Unwissenheit preis-zugeben, schüttelte aber den Kopf. Die Schweinsaugen des Gastes glänzten und der Mann ergoss den Schwall seiner Begeisterung über ihn.
„Er verfügt über totipotente Zellen. Was wiederum bedeutet …“
„Stopp!“ Tilse ließ sich vom Stuhl auffangen und starrte die Raufasertapete der Decke an. „Es ist fünf Uhr morgens und ich verstehe nur Bahnhof. Also bitte: Gentechnik für Dummys, okay?“
Über das Gesicht des Gastes huschte ein Hauch von Enttäuschung und die Stimme verlor an Enthusiasmus. „Totipotente Zellen existieren nur in Embryos bis zu dem Achtzellstadium. Dieses Stadium wird so genannt, weil zu dieser Zeit der Embryo nur aus acht totipotenten Zellen besteht. Das Besondere an diesen Zellen ist, dass sich aus einer einzigen ein vollständiger Organismus bilden kann. In Erwachsenen sind die Stammzellen nicht mehr totipotent, sondern multipotent, was bedeutet:, sie können nur Zellen ihres Typs bilden. Aus Hautstammzellen entstehen dann nur Hautzellen, aus einer Leberstammzelle nur Leberzellen und so weiter. Im Blut Ihres Geigers wurden aber totipotente Zellen gefunden. Ich vermute, die hat er nicht nur im Blut.“ Er forschte in Tilses Gesicht. „Klar soweit?“
„Seine Zellen sind in der Lage, neue Organe und sogar Organismen zu bilden. Wollen Sie das sagen?“
„Und das mit einer irren Geschwindigkeit. Bei diesem Kerl sind aber nicht nur die Zellen sonderbar, sondern auch seine WNT-Gene. Diese Gene sind für die Regenerierung des Körpers zuständig. Sie stoßen die Zellen an, sich zu dem einen oder anderen Typ auszudifferenzieren. Bei einem erwachsenen Menschen sind diese Gene fast inaktiv, sie sind nur für die Heilung von Wunden und sonstigen Wehwehchen zuständig. Bei Ihrem Geiger müssen sie auf Hochtouren arbeiten.“
„WNT-Gene?“
„Sind auch in einigen Tieren so aktiv. Ein Lurch zum Beispiel, ein Axolotl, ist imstande, sogar Teile seines Herzens wiederherzustellen. Aber das ist noch nicht alles. Die Zellen unseres Geigers sind irgendwie – universal. Sie sind imstande, in einem beliebigen Körper gezielt auszudifferenzieren. Gezielt! Verstehen Sie? Wie genau das funktioniert, kann Ihnen allerdings keiner sagen.“
„Okay. Er kann heilen.“
Nichts Neues, fügte Tilse in Gedanken hinzu. Wie war das noch mal? Jesus hatte mit dem Glauben geheilt? Pah! Die Stammzellen waren es, embryonal und tot-wie-auch-immer. Um fünf Uhr morgens befand sich der Ausdruck nicht in seinem ak-tiven
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