Staub zu Staub
Segen. Nicht mal der Wind verirrte sich hierher.
Mirjam betrachtete die eingeschlagenen Rosetten und Bogenfenster. Angenagelte Bretter blockierten die Eingangstür. Ihr Blick wanderte zum spitzen Turm mit einem verkohlten Balkenskelett.
„Kommt dir hier irgendetwas bekannt vor?“
Max betrachtete die Kirche, dann sah er über die Dächer des Dorfes. Kurze Zeit später wandte er sich wieder dem Gebetshaus zu. In seinen Augen sah Mirjam Unruhe aufsteigen, eine Ahnung von längst Vergessenem. Tiefe Furchen gruben sich in seine Stirn und er schaute auf seine Handflächen.
„Ah, es ist zum Schreien. Sie sind so nah, die Erinnerungen, aber ich kann sie nicht fassen.“
Mirjam wollte ihn beruhigen, als eine heisere Frauenstimme sie herumfahren ließ.
„Hallo? Kann ich Ihnen helfen?“
Etwas abseits stand die Frau, die Mirjam flüchtig aus dem Autofenster gesehen hatte.
„Äh – ja.“ Mirjam ging auf sie zu. „Kannten Sie zufällig Pater Preschke? Vor …“
„Aber natürlich kannte ich ihn! Ich war so etwas wie seine Verwalterin. Und seit er fortging, achte ich auf seine Schäfchen. Jemand muss es ja tun.“
„Wissen Sie, warum die Kirche geschlossen wurde?“
Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust. „Kein Geld, warum denn sonst? Das hat ihm arg zugesetzt. Die war ihm wie ein Kind, seine Kirche.“
„Sie hat gebrannt, wie ich sehe?“, fragte Max.
„Zwei Mal.“ Sie sah zum Turm auf und schluckte schwer. „Das erste Mal in der Nacht, kurz nachdem wir vom Schließen erfahren haben. Und ein paar Jahre später sollte sie wieder geöffnet werden, doch es gab keinen Segen mehr.“ Sie blickte zu den verwelkten Bäumen auf. „Ja, kein Segen. Für keinen von uns.“
„Was für ein Mensch war der Pater?“, wollte Mirjam wissen.
„Alle haben ihn geliebt. Er hat sich um uns gekümmert, besonders um die Kleinen aus dem Kinderheim. Aber nachdem er seine Kirche verloren hatte, wollte er niemanden mehr sehen. Redete kaum noch.“
„Kinderheim?“, hauchte Mirjam und spürte Max’ Hand in ihrer. Sie drückte leicht seine Finger. Als wäre das eine Ermutigung gewesen, fragte er:
„Hatte euer Pater irgendetwas mit Schweden zu tun?“
„Mit Schweden? Nein. Nicht, dass ich wüsste.“
„Vielleicht hat er da Urlaub gemacht?“ Seine Stimme vibrierte. „Oder hatte Bekannte dort?“
„Nun, Bekannte – nicht direkt, aber unser Helmut Steiner ist immer nach Skandinavien gefahren. Er war Fernfahrer. Hat vor jeder Fahrt den Segen geholt. Sehr gläubig ist er.“
Mirjam stockte der Atem. Kinderheim, Skandinavien – das war die Verbindung! Eine hauchdünne, aber eine Verbindung. „Wissen Sie, wo wir diesen Steiner finden können?“ Vor Aufregung verflocht sie ihre Finger fester mit denen von Max, als wäre er ihr bester Freund, dem sie beistehen wollte.
„Weggezogen ist er, zurück zu seiner Mutter nach Niedersachsen. Gleich nachdem unser Pater alles aufgegeben hatte. War einer der Ersten, der von hier gegangen war. Lebt jetzt nahe Celle, soweit ich weiß.“
„Haben Sie vielleicht seine Adresse?“
„Wieso?“
„Ich arbeite im Pflegeheim. Pater Preschke hat mich vor seinem Tod gebeten …“ Während sie noch redete, merkte sie, wie die Frau sich immer mehr verschloss.
„Bitte“, flüsterte Max.
Etwas an ihm ließ die Züge der Frau weich werden. „Aber natürlich helfe ich gern.“ Sie lächelte ihm zu, wie sie vielleicht ihren Sohn angelächelt hätte, und nannte die Adresse. „Und grüßen Sie ihn lieb von mir.“ Sie tappte zur Straße, sah aber nach einigen Schritten zurück. „Ah ja, ich weiß nicht, ob das wichtig ist – heute hat ein Priester nach ihm gefragt. Ist mir aufgefallen, weil er nicht allein war. Der andere sah ein bisschen wie ein Geschäftsmann aus. Anscheinend Bekannte unseres Paters. Sonst haben wir kaum Besucher hier, wissen Sie.“ Die Frau setzte ihren Weg fort.
Als sie den Hügel hinabgestiegen war, grinste Mirjam Max an. „Übrigens, ich war noch nie auf einem Bauernhof irgendwo bei Celle. Also, wenn du morgen wieder Chauffeur spielen magst …“
„Stets zu Ihren Diensten. Nur probe ich bis drei Uhr mit meinen Streichern.“
„Ich könnte zu dir kommen.“
„Gerne.“
Kapitel 8
Ohne Sandra kam Tilse das Bett so riesig vor, als könne er sich darin verlieren. Er wälzte sich auf die Seite, die Decke bis zu den Achseln gezogen und zwischen die Beine geklemmt. Auf dem Nachttisch verhöhnte ihn die leuchtend rote Uhrzeit: 04:31. Diese Nacht hatte
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