Staub zu Staub
begann.
Kapitel 12
Mirjams Beckenknochen schmerzte, als sie sich auf die Seite drehte. Die Luftmatratze hatte nicht lange gehalten. Doch selbst in einem Himmelbett hätte sie diese Nacht nicht friedlich verbringen können.
Macht’s Spaß, mich zu quälen, du Miststück?
Die Stimme klang so intensiv, als hätte der Tote tatsächlich zu ihr gesprochen. Die imaginären Hände tasteten nach ihrer Brust. Mirjam fröstelte und zog sich die Decke bis zum Hals.
Hüte deine Wünsche, Gedanken und Ideen, denn sie könnten in Erfüllung gehen, hatte jemand gesagt. Wer – wusste sie nicht, und es gab keinen Max in der Nähe, der es ihr verraten könnte. Es spielte auch keine Rolle. Sie hätte besser über ihre Wünsche wachen sollen.
Mirjam versteckte ihren Kopf unter dem Kopfkissen. Wie leicht war es ihr gefallen, sich den Tod eines Menschen zu wünschen.
Macht’s Spaß …?
Beinahe glaubte sie, der Tote stünde über ihr und sobald sie unter dem Kopf-kissen hervorlugte, würde sie in sein zersetztes Gesicht blicken. Sie schüttelte sich, bekam kaum noch Luft, während die Stimme durch ihren Kopf spukte:
Er wird wieder töten. Du kannst ihn nicht aufhalten, das hast du doch gesehen. Er wird alle vernichten. Alle
.
Mirjam strampelte sich aus der Decke, hastete zur Stehlampe und knipste das Licht an. Natürlich stand niemand neben der Luftmatratze. Stattdessen spürte sie etwas in ihrem Rücken. Sie fuhr herum und starrte zum Balkon. Die Tüllgardinen bewegten sich. Bloß ein Luftzug, redete sie sich ein und kletterte auf das Sofa.
Macht’s Spaß?
Kein Licht vermochte das Hirngespinst zu verscheuchen. Es geisterte in ihrem Kopf und lachte über ihre Hilflosigkeit:
Wo bleibt dein Engel? Kann er dich nicht mehr hören?
Im Flur stampften Schritte. Während Mirjam Kristin mit dem Eimer klappern und das Klo spülen hörte, konzentrierte sie sich auf das Morgengebet:
„Modah Ani lefanejcha, melech chaj ve’kajam, schehe’chezarta bi nischmati be’chemlah – rabah emunatejcha.“
Es brachte keinen Trost. Noch nie hatte sie sich so fern ihres Schöpfers gefühlt. Rabah emunatejcha – groß ist Dein Vertrauen. Auch nachdem sie sich den Tod eines Menschen gewünscht hatte? In ihrem Geist formte sich das Gesicht ihres Vaters und seine Worte donnerten auf sie nieder: Du hättest die Traditionen deines Volkes achten sollen!
Die Tür quietschte. Durch den Spalt schlängelte sich Tüpfelchen herein.
Bernsteinfarbene Augen glitzerten sie an. Die Katze sprang auf das Sofa und tapste mit den weichen Pfoten über ihre Oberschenkel. Mit der Schwanzspitze kitzelte sie Mirjam unter dem Kinn, sanft wie eine Mutter, die ihr Kind streichelt.
Bald schlug die Eingangstür.
Beim Frühstück gelang es Mirjam nur, einen halben Buttertoast herunter zu würgen. Bei jedem Bissen dachte sie daran, dass ihre Eltern niemals bei den Andersgläubigen etwas aßen, weil das Essen dort einfach nicht koscher sein konnte. Ihr Magen fühlte sich kaum größer an als die Verschlusskappe einer Cola-Flasche. Frau Wiebke bemühte sich, sie aufzumuntern. Doch Mirjam beachtete sie nicht mehr als Tüpfelchen, die mit lautem Miauen um Futter bettelte.
Gegen neun Uhr griff sie zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei-wache. Das Bedürfnis Max zu sehen, mit ihm zu reden, zerrte an ihr wie das Verlangen eines Drogensüchtigen nach Stoff. Warum vermisste sie ihn bloß so sehr? Es dauerte mindesten eine Viertelstunde, bis sie zum zuständigen Beamten durchgestellt wurde. Vielleicht war es sogar Schöbel selbst, der ihr kurz und bündig erklärte, dass es nicht möglich sei, Max im Gefängnis zu besuchen, und er ihr auch sonst keinerlei Informationen zum Fall geben könne. Nur schwer beherrschte sie sich aufzuschreien, wie unfair das sei. Das Gefühl, unbedeutend klein zu sein, schwoll in ihr an.
Nachdem sie Frau Wiebke Bescheid gesagt hatte, verließ sie die Wohnung. Schließlich brauchte sie eine Krankmeldung vom Arzt. Über der Stadt lächelte die Sonne, was Mirjam noch stärker auf das Gemüt schlug. Die Sonne log, die Welt war weder warm noch strahlend.
Unterwegs kam sie an einem Bekleidungsgeschäft vorbei, kaufte sich eine Bluse und eine Hose und behielt die Sachen gleich an. Ihre alten stopfte sie in den näch-sten Mülleimer. Der Kummer in ihr wollte den Klamotten allerdings nicht in den Abfall folgen.
Während Mirjam im Wartezimmer von allen Seiten angeniest und angehustet wurde, wühlte sie in den Illustrierten auf dem Tisch. Unter
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