Staub zu Staub
erzählen.“
„Du hattest einen Kreuzanhänger mit ‚Inter spem et metum’. Pater Preschke hat dir seinen gegeben, als er sich von dir verabschiedet hat. Du warst bewusstlos.“
Max fuhr zum Ausschnitt seines Hemdes, als wolle er das fehlende Kreuz ertasten, und senkte die Hand. „Es gibt viele Menschen, die vom Anhänger wissen. Das ist kein Geheimnis.“
„Wie viele wissen, dass du in einer grauen Wolldecke gefunden wurdest, die ein Brandloch hatte? Oder dass der anonyme Anrufer, der das Krankenhaus alarmiert hat, nach den Worten —Söder Grev’ gehustet hat, weil er so sehr bemüht war, seine Stimme zu verstellen?“
Eine Weile lag Stille im Raum, unterbrochen durch Helmuts Schnaufen, bis Max wieder die Sprache erlangte. „Wie war mein Nachname? Wer sind meine Eltern?“
Steiner verließ das Zimmer. Mirjam hörte die Treppe knarren und seine Schritte im Obergeschoss. War das jetzt alles? Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Sie wollte dem Mann nachlaufen und ihn zur Rede stellen, da kam er mit einer grünen Blechdose zurück.
„Das gehört dir.“ Er drückte Max die Dose in die Hand.
Zögernd öffnete Max den Deckel, nahm ein Blatt heraus und faltete es auseinander. „Jonathan Cohen. 29. Dezember … ist das meine Geburtsurkunde?“
„Ja. Ich habe sie mir aus dem Kinderheim … besorgt. Dort galtest du als vermisst, aber viele Waisenkinder hauen ab. Ein Jonathan Cohen wurde nie gefunden.“
Mirjam kam näher. „Cohen? Bei so einem Nachnamen frage ich mich …“
„Ja. Seine Mutter war jüdisch.“
Für einen Moment entbrannte in ihr ein Funke der Freude. „Dann bist du es auch“, hauchte sie Max zu, doch gleich darauf schämte sie sich für diesen Anflug von Frohsinn. Für ihn gab es bis jetzt wenig Erfreuliches. Wie sollte er sich mit den jüdischen Traditionen identifizieren, wo er in einem anderen Glauben erzogen worden war?
Max steckte die Urkunde in die Innentasche seines Anzugs und nahm ein schwarzweißes Foto aus der Dose. Vom Bild lächelte eine magere Frau mit langem Haar und einem Löwenzahnkränzchen auf dem Haupt. Sie saß im Schneidersitz unter einer Birke und umarmte ein etwa vierjähriges Kind.
„Ist sie das? Meine Mutter?“
Helmut Steiner antwortete nicht, vielleicht weil Max gar keine Antwort brauchte.
Kristin hob den Zeigefinger wie eine Erstklässlerin. „Irgendwie verstehe ich das nicht. Was ist er dann auch?“
„Ein Jude“, erklärte Mirjam. „Nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, ist ein Kind ein Jude, wenn seine Mutter jüdisch ist.“
„Also wirklich.“ Max drehte sich dem Fenster zu. „Das hätte ich schon gemerkt.“
„Gemerkt?“ Kristin ließ ihre Strähne los, die sie versucht hatte, um die Nasen-spitze zu wickeln. „Wie willst du denn merken, welcher Religion du angehörst? Da trägt man kaum ein Schildchen ‚bin jüdisch’, oder?“
Mirjam errötete. „Er meint Brit Mila. Jedes männliche Kind wird an seinem achten Lebenstag beschnitten.“
„Ah.“ Erst einige Sekunden später erschloss sich Kristin die Bedeutung des Wortes ‚beschnitten’ und Röte überschwemmte ihre Sommersprossen. „Oh.“
Steiner wiegte den Kopf. „Kein Nagel hat eine Spur hinterlassen. Du heilst dich selbst. Wie können wir hier jetzt von ein wenig Haut sprechen?“ Seine Finger fuhren über die Tischoberfläche, ertasteten einen Wachsfleck und kratzten daran. „Deine Geburt war ein Wunder.“
Kristin grinste. „Ah, seine Mutter hieß Maria und war eine Jungfrau.“
„Nein. Aber sie konnte keine Kinder bekommen, aus medizinischen Gründen. Als du sechs warst, hat Pater Preschke dafür gesorgt, dass ihr das Sorgerecht entzogen wurde.“
„Warum?“ Max strich über das Foto.
„Der Pater dachte … nun ja, er dachte, es gehört sich nicht, wenn der Sohn Gottes von einer … Prostituierten erzogen wird. Das hat sie gebrochen.“
Max’ Finger zitterten leicht. „Wo ist sie jetzt? Wo ist meine Mutter?“
„Sie ist seit einem halben Jahr tot. Drogenmissbrauch.“
Max stellte den Kaktus zur Seite und öffnete das Fenster. Die Brise wehte den Geruch von Kuhmist herein. Wieder legte sich Schweigen über den Raum. Diesmal unterbrach Mirjam die Stille.
„Das ist total verrückt. Ich hätte ja schon alles von Christen erwartet, aber das hier – sorry. Das übersteigt sogar meine Vorstellungskraft.“
Kristin zwinkerte ihr zu. „Ach ja, meintest du nicht, der Messias muss irgendwelche Voraussetzungen erfüllen? Ich glaube, da war etwas mit
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