Staub zu Staub
ein Wackelhündchen.
„Gehen Sie bitte zum Ausgang!“, rief Mirjam. „Bitte, gehen Sie nach draußen!“
Mit dem gleichen Erfolg hätte sie einen Hurrikan anschreien können. Zwischen den Menschen sah sie Kristin, die ein Grüppchen zum Ausgang drängte. Mirjam schob den Rollstuhl zur Treppenrampe, als Preschke an die Räder griff und seine Füße gegen den Boden stemmte. Zuerst hörte sie nicht, was er sagte, dann vernahm sie sein Krächzen.
„Vier Jahreszeiten. Vier Jahreszeiten.“
Sie versuchte seine Hände von den Rädern zu lösen, doch er brüllte immer lauter und trampelte mit den Füßen auf das Linoleum. „Vier Jahreszeiten! Vier Jahreszeiten!“
„In Ordnung. Beruhigen Sie sich. Ich bin gleich wieder da.“
Mirjam lief zurück ins Zimmer und riss die Schubladen des Nachttisches auf. Unter einer muffigen Unterhose entdeckte sie endlich die CDs. Mozart, Bach, Mendelssohn-Bartholdy, aber kein Vivaldi. Sie runzelte die Stirn, als ihr Blick auf die Musikanlage fiel. Natürlich! Wie konnte sie das vergessen? Mirjam fingerte die Disk heraus und stürmte zurück in den Flur.
Doch wo war Preschke?
Irritiert schaute sie sich um. Zwei Türen weiter führte Kristin einen Mann aus dem Zimmer. Mirjam lief zu ihr. „Preschke! Hast du ihn gesehen? Wo ist er?“
„Einer vom Pflegedienst hat ihn mitgenommen.“ Ohne aufzublicken schloss sie die Tür ab.
„Pflegedienst? Wer?“
„Was weiß ich, Mensch? Kümmere dich um die anderen und steh nicht so blöd rum!“
Jemand stieß Mirjam in den Rücken. Eine alte Frau griff nach Mirjams Händen wie nach einem Rettungsring.
„Kindchen, was ist hier los?“
„Kommen Sie mit“, sagte Mirjam so beruhigend wie möglich und führte sie zum Ausgang.
Draußen dämmerte es bereits. Die Heimbewohner hatten sich auf der Wiese versammelt, scharten sich in kleinen Grüppchen zusammen. Blasse Gesichter zeugten von Angst, alle zum rechten Gebäudeflügel gerichtet, wo aus den Kellerfenstern grauweißer Rauch emporstieg und sich in der Luft auflöste. Irgendwo in der Ferne ertönte die Feuerwehrsirene. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.
„Bleiben Sie erst mal hier.“ Mirjam tätschelte die Hand der alten Dame, und rannte zurück zum Eingang. Sie presste die Vivaldi-CD an ihre Brust und kämpfte sich durch die nach draußen strömenden Menschen. Einige Türen waren abgesperrt, hinter anderen sah sie leere Zimmer. Wo blieb Preschke? Allein konnte er nicht weit gekommen sein und ein Pfleger hätte ihn auf die Wiese gebracht. Am Ende des Korridors riss sie die Kellertür auf, stürmte hinein und blieb stehen, wie gegen eine Wand gelaufen.
Unten auf dem Treppenabsatz lag Preschke, unter seinem Rollstuhl begraben. Sein Kopf war verdreht, der Mund stand offen und von seinen bleichen Lippen tropfte Speichel.
Tot!
Der Gedanke traf sie wie ein Schlag. Einem Ameisenheer ähnlich lief Gänsehaut über ihren Körper. Neben dem Alten kniete ein Mann in einer weißen Pflegeruniform und prüfte den Puls. Von seiner Statur her hätte er sogar Kristin auf den Händen wegtragen können. Mirjam sah nur seine Kopfhaut, die durch das hellbraune Haar schimmerte, das Gesicht blieb ihr verborgen.
Sie fuhr herum und prallte gegen einen anderen Pfleger, der sich von hinten angeschlichen hatte. Junges Gesicht mit hohen Wangenknochen, das zerzauste, dunkelblonde Haar erinnerte an einen Wischmopp und fiel ihm über die Augen.
Keiner von beiden gehörte zum Personal.
Mirjam schrie auf und wurde von hinten gepackt, als schlossen sich die Pranken eines Bären um sie. Eine schweißnasse Hand presste sich auf ihren Mund und erstickte jegliches Geräusch, das aus ihrer Kehle dringen wollte. Zimtparfüm rief Übelkeit in ihr hervor und sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Mit ganzer Kraft trat sie dem Mann gegen das Schienbein. Er schnaubte, sein Griff lockerte sich. Sie biss ihm in den Daumen und strampelte sich los. Der Kerl schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Vor ihren Augen tanzten weiße Punkte, die CD fiel ihr aus der Hand und klimperte über die Stufen.
Mit wutverzerrtem Gesicht kam der Mann auf sie zu. Mirjam stolperte die Treppe herunter und rannte los, so schnell sie konnte. Die schwachen Deckenlampen warfen gelbes Licht auf ihren Weg. Wasserrohre erstreckten sich an der Wand und blubberten wie der Magen eines hungrigen Ungeheuers. Rauchiger Dunst lag in der Luft.
Links erblickte sie die Tür mit der grünen Notausgangleuchte. Mirjam warf sich dagegen, rüttelte am
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