Staub zu Staub
Griff, doch sie war verschlossen. Durch die Scheibe sah sie den Parkplatz für das Personal und das blinkende Blaulicht der Feuerwehr. Verzweifelt schlug sie mit der Hand gegen das Glas, löste sich von der Tür und lief um die Ecke des Ganges.
Der Rauch kratzte in ihrer Kehle, brannte in den Augen. Hinter sich nahm sie die Schritte der Verfolger wahr. Ihr Blick fiel auf die Tür zum Heizungsraum. Sie stolperte hinein und kauerte sich auf dem Boden zusammen. Die stampfenden Schritte näherten sich. Sie schloss die Augen. „Schma Jisrael: Adonai Elohejnu“, betete sie. Das Bekenntnis, das sie mit dem Ewigen verband und Seine Nähe spürbar machte. „Adonai Echad …“
Harte Schuhsohlen polterten auf die Tür zu. Für einen Augenblick hielt sie inne, doch die Schritte rumpelten weiter. Sie schnappte nach Luft. Ein Hustenanfall überfiel sie. Sie presste die Hand gegen den Mund, doch es war zu spät. Die Schritte stoppten, kamen zurück und die Tür wurde aufgerissen.
Kapitel 2
Der Mann trat über die Schwelle, riesig und breitschultrig wie Goliath, und mit ihm wehten graue Rauchschwaden herein. Nach Mirjams Empfinden schrumpfte der Heizungsraum auf die Maße eines Aufzugs. Sie kroch hinter den Heizkessel, bis die Wand ihre Flucht beendete. Mit den Armen über dem Kopf, drückte sie das Gesicht an die Knie, eingeengt in ihrer kleinen Welt.
Eine heisere Stimme redete auf sie ein: Feuerwehr, das Gebäude verlassen. Erst jetzt nahm sie die Uniform mit Lichtreflektorstreifen wahr. Auf einmal fühlte sie sich schwerelos - seine Arme hoben sie wie ein Kind und trugen sie ins Freie.
Die Pfleger, die aus der Dienstbereitschaft gerufen worden waren, führten die Heimbewohner in ihre vertrauten vier Wände zurück, stellten die umgekippten Stühle auf, fegten die Scherben raus. Durch die aufgerissenen Fenster wehte eine Brise und umspielte die Zweige einer Zimmerpalme am Ende des Korridors. Einige der alten Menschen tuschelten miteinander. Die Nachricht über Preschkes Tod machte ihre Runde, genauso schleichend und Unruhe stiftend wie zuvor der Rauch.
Mirjam starrte vor sich hin, als würde sie den Folgen einer Katastrophe in den Nachrichten zusehen. Erschreckend. Mitleid erregend. Aber weit entfernt. Alles wirkte irreal, keiner beachtete sie. Vielleicht war sie schon tot? Vielleicht bildete sie sich nur ein zu leben?
„Hey, ich habe dir einen Tee gemacht.“
Mirjam schrak zusammen. „Was?“
„Ich habe dir einen Tee gemacht, du Nase.“ Kristin lächelte und hielt ihr eine Tasse mit einer grinsenden Micky Maus entgegen. Der Tee dampfte, der Roibuschduft kitzelte ihre Nase. Schweigend wandte sich Mirjam ab. Kristin war die Letzte, von der sie jetzt umsorgt werden wollte. „Es war ein Chaos“, redete diese weiter. Ihre Stimme klang samtig,ohne vor Autorität zu peitschen oder sich in Gekicher zu überschlagen. „Ein Wunder, dass nur einer abhanden gekommen ist.“
Abhanden gekommen. So nannte man das also, wenn ein alter Mann umgebracht wurde. Mirjam biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen, und ging den Korridor entlang. Neben Preschkes Tür blieb sie stehen, zögerte und schritt hinein. Ihr Blick fiel auf das Bett mit der zerknitterten Decke. Auf dem Gummilaken glänzte die Urinpfütze und breitete einen schweren Geruch aus.
Mirjam erinnerte sich an Preschkes leeren Blick, der immer am Kruzifix haftete. An der kahlen Wand hing es - ein Kreuz aus dunklem Holz und eine bleiche Figur mit blutroten Malen, wie die Haut eines Aussätzigen.
Verkauft habe ich ihn
.
Was hatte er damit sagen wollen?
Mirjam starrte Jesus an, der ihr sein Leiden präsentierte. Sein Leiden! Als hätten alle anderen Menschen niemals gelitten.
„Mach es dir nicht so schwer. Es war nicht deine Schuld“, hörte sie Kristin sagen.
„Du hast gut reden.“ In ihrem Kopf kreisten die verschwommenen Gesichter der Mörder. Wie lange würden die Typen brauchen, um herauszufinden, wie sie hieß und wo sie wohnte? Was sollte sie jetzt tun, bei wem Hilfe suchen?
Mirjam vertrieb die Gedanken und begann aufzuräumen. Ein sinnloses Vor-haben, aber es half, sich abzulenken. Sie stellte den Stuhl auf seinen Platz neben dem Schrank, stopfte die Unterhose in die Schublade, aus der das Teil heraushing. Als sie die Musikanlage etwas zur Wand rückte, klapperte eine CD-Hülle hinter dem Nachttisch. Mirjam hob das Cover auf. An einer Seite wies das Plastik einen Sprung auf.
Antonio Vivaldi. Die Vier Jahreszeiten. Op. 8, Nr. 1-4.
Kristin
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