Staub zu Staub
„Ich muss gehen. Das Erbarmen des Herrn währt ewig.“ Er öffnete die Tür, kam aber noch einmal zurück. Seine Stirn an das Gitterfenster gedrückt, flüsterte er: „Ich bereue, Böses getan zu haben.“
Tilse drehte den Kopf, um sein Gesicht vor ihm zu verbergen. „Gehen Sie in Frieden.“
Durch die Staus in der Stadt dauerte die Fahrt eine Stunde. Diesmal parkte Tilse weit von der Kastanie entfernt. Er stieg aus und klingelte an der Tür. Als niemand öffnete, klingelte er erneut. Nach einer Weile holte er sein Handy aus der Tasche und rief Friedmann an. Irgendwo im Haus hörte er das Telefon klingeln. Tilse versuchte es mit der Handy-Nummer, doch auch da meldete sich niemand. Seltsam.
Er spähte durch das rhombusförmige Fenster. Die Eingangstür quietschte und ging einen Spalt auf.
„Friedmann? Sind Sie da?“ Er schlich durch den Korridor. Der Duft von Kerzen reizte seine Nase, er musste niesen. „Hallo? Friedmann?“
Vorsichtig stieß er die Wohnzimmertür auf. Die zugezogenen Vorhänge tauchten den Raum in Dämmerlicht. Lose Blätter und aufgeschlagene Bücher bedeckten den Teppich. In der Mitte des Zimmers, auf einer Matte im Kreis von Teelichtern, lag Friedmann. Seine Beine waren angewinkelt, die Arme ausgestreckt. Auf den bleichen Lippen schäumte Speichel, lief sein Kinn herunter und tropfte zu Boden. Tilse beugte sich über ihn. Die Pupillen in den weit aufgerissenen Augen zuckten. Der alte Mann lebte.
„Friedmann!“ Er klatschte dem alten Mann auf die Wangen. „Kommen Sie zu sich. Friedmann!“ Keine Reaktion. „Hey! Aufwachen.“ Wieder gab er dem Alten eine Backpfeife, diesmal kräftiger. An seinen Fingern blieb Speichel kleben. Ange-widert wischte Tilse die Hand an Friedmanns Hemd ab. Friedmann zuckte zusam-men und röchelte. Für einen Moment drohte er an seiner Spucke zu ersticken. Die knochigen Finger verkrallten sich in die Papiere, auf denen er lag. Das Oberhaupt bäumte sich auf, rollte auf die Seite und erbrach sich auf Tilses Füße. Schleimige, gelbliche Flüssigkeit bedeckte die polierten Schuhe.
„Scheiße!“ Tilse sprang zurück und hob ein Blatt vom Boden auf.
Yichudim, das System der Meditation. Die Erweiterung des Namens des Gottes
.
YOD HY VAV HY
YOD HH VV HH
YAHDVNHY
Meditation in Chochmah – Weisheit. Der Vokal-Punkt Patach
.
YaHaVaHa
Mit dem Papier wischte er das Erbrochene von seinen Schuhen ab und warf das Blatt in den Papierkorb. Säuerlicher Geruch schwängerte das Zimmer. Tilse riss die Gardinen zur Seite und machte das Fenster auf. Frische Luft strömte herein.
Langsam kam Friedmann zu sich. Seine Hände zitterten, der Blick schweifte ruhelos durch den Raum. Je weiter Tilse diese Hilflosigkeit beobachtete, desto mehr erinnerte es ihn an Preschkes Zustand im Pflegeheim. Ein geschwächter Körper, eher ein Wrack, und der Geist verwirrt und verschleiert.
Erst nach einer Viertelstunde fand Friedmann die Kraft, sich aufzusetzen. Tilse wartete geduldig, lehnte sich gegen die Tischkante und nahm das hellblaue Buch auf. ‚Meditation und Kabbala. Aryeh Kaplan’ stand auf dem Einband. Er schlug es an einer Stelle auf, die eine orangefarbene Haftnotiz markierte. Ein Absatz war unterstrichen.
Meditation ist ein Mittel zur Erlangung spiritueller Freiheit. Die verschiedenen Methoden werden benutzt, um die Verbindung zum Physischen zu lösen, und sie erlauben es dem Individuum, in den transzendentalen, spirituellen Bereich aufzusteigen. Von dem, der dies mit Erfolg vollbringt, sagt man, er habe den ‚Ruach haKodesh’ erlangt, was der allgemeine hebräische Ausdruck für Erleuchtung ist
.
„Sie haben meditiert?“ Er klappte das Buch geräuschvoll zu und warf es beiseite.
„Ich habe versucht, die meditative Kabbala auszuüben.“ Friedman pustete die Teelichter aus. Mit leerem Blick beobachtete er, wie die Rauchfäden zur Decke schlängelten und sich auflösten. „Professor Berger hatte Recht. Mit der Kabbala kann man viel Schaden anrichten, vor allem bei sich selbst. Zum Glück habe ich die Tür offen gelassen und Sie sind noch rechtzeitig gekommen.“
„Wieso haben Sie das praktiziert?“
Friedmann wich seinem Blick aus. „Der Junge wird sterben, wenn wir nichts unternehmen.“
„Walters? Haben Sie nicht einmal gesagt, die Verantwortung liegt in der Hand des Menschen? Er hätte besser aufpassen sollen. Außerdem verstehe ich nicht, wie Ihre Meditation ihm helfen könnte.“
„Die Ursprünge der meditativen Kabbala finden sich bereits in der
Weitere Kostenlose Bücher