Staub
ganze Nacht hat er sich schwitzend im Bett herumgewälzt und es einfach nicht geschafft, eine bequeme Liegeposition zu finden. Nachdenklich blickt er sich um. Kein Mensch ist auf der Straße. Niemand joggt oder führt seinen Hund aus. Eines ist ihm an diesem Viertel bereits aufgefallen: Die Leute leben zurückgezogen und haben offenbar keine Freude an ihren Luxusvillen oder den bescheideneren Behausungen. Nur selten sitzt jemand auf der Terrasse oder schwimmt im Pool, und die Leute, die Boote besitzen, fahren kaum damit. Eine seltsame Gegend, denkt er. Eine unfreundliche, merkwürdige, unsympathische Gegend. Es macht ihn wütend.
Ausgerechnet hierher musste sie ziehen, überlegt er weiter. Warum? Warum zum Teufel hierher? Wer sucht sich denn freiwillig Arschlöcher als Nachbarn? Du hast gegen alle deine Regeln verstoßen, Lucy. Wirklich gegen alle. Er reißt die Klappe des Briefkastens auf, späht hinein und macht sofort einen Satz zur Seite. Unwillkürlich weicht er drei Meter zurück, und seine Aufregung wächst, bevor ihm richtig klar wird, was er da gesehen hat.
»Scheiße!«, murmelt er. »Verdammte Scheiße!«
37
Der Verkehr in der Innenstadt ist so dicht wie immer. Scarpetta fährt, weil Marino noch in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist. Am meisten Schmerzen scheinen ihm die Verletzungen an den Stellen zu bereiten, die man besser nicht erwähnt. Er geht leicht o-beinig und hatte vorhin Schwierigkeiten beim Einsteigen in den Geländewagen. Scarpetta weiß, was sie gesehen hat, doch die zornige rötlich violette Färbung des empfindlichen Gewebes war nur ein stiller Schrei, verglichen mit dem brüllenden Schmerz, der jetzt dort toben muss. Marino wird in nächster Zeit ein wenig eingeschränkt sein.
»Wie geht es dir?«, fragt sie ihn wieder. »Ich verlasse mich darauf, dass du mir die Wahrheit sagst.« Damit meint sie, dass sie ihn nicht noch einmal dazu auffordern wird, sich auszuziehen. Sie wird ihn untersuchen, wenn er sie darum bittet, aber sie hofft, dass es nicht nötig werden wird. Außerdem wird er sie sowieso nicht fragen.
»Ich glaube, schon besser«, erwidert er und starrt hinaus auf das alte Polizeirevier in der 9th Street. Das Gebäude machte schon vor Jahren einen heruntergekommenen Eindruck; die Farbe blättert ab, und oben an der Kante fehlen Ziegel. Nun, so still und verlassen, sieht es noch schlimmer aus. »Ich fasse es nicht, wie viele Jahre ich in dieser Bude vergeudet habe«, fügt er hinzu.
»Ach, komm schon.« Als sie den Blinker einschaltet, tickt er wie eine laute Uhr. »So etwas sagt man nicht. Lass uns den Tag nicht mit solchen Bemerkungen beginnen. Ich hoffe, dass du den Mund aufmachst, wenn die Schwellung schlimmer wird. Es ist sehr wichtig, dass du ehrlich zu mir bist.«
»Es ist besser geworden.«
»Gut.«
»Ich habe mich heute Morgen selbst mit Jod eingeschmiert.«
»Gut«, wiederholt sie. »Trag es weiter immer nach dem Duschen auf.«
»Es brennt nicht mehr so. Wirklich. Was ist, wenn sie irgendeine Krankheit hat? AIDS zum Beispiel. Das ist mir vorhin eingefallen. Was mache ich dann? Woher weiß ich, dass es nicht so ist?«
»Leider kannst du das nicht wissen«, entgegnet Scarpetta, während sie langsam die Clay Street entlangfährt. Links von ihnen erhebt sich aus einem Meer leerer Parkplätze das riesige braune Coliseum. »Wenn es dich beruhigt, habe ich, als ich mich bei ihr umgeschaut habe, nirgendwo Medikamente herumliegen sehen, die auf AIDS oder eine andere sexuell übertragbare Krankheit oder Infektion hinweisen. Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht trotzdem HIV-positiv sein kann. Vielleicht weiß sie ja selbst nichts davon. Aber dasselbe gilt für jede Person, mit der du je intim warst. Falls du dich also mit Sorgen zermürben willst, nur zu.«
»Ich will mir ja keine Sorgen machen«, antwortet er. »Aber wenn man gebissen wird, helfen keine Gummis. Dagegen kann man sich nicht schützen. Safe Sex funktioniert irgendwie nicht, wenn einen jemand beißt.«
»Die Untertreibung des Jahres«, erwidert sie und biegt in die 4th Street ein. Ihr Mobiltelefon läutet, und sie erschrickt, als sie Rudys Nummer erkennt. Er ruft sie nur selten an, und wenn er es tut, will er ihr entweder zum Geburtstag gratulieren oder hat eine schlechte Nachricht für sie.
»Hallo, Rudy«, meldet sie sich, während sie langsam den Parkplatz hinter dem Gebäude umrundet. »Was gibt’s?«
»Ich kann Lucy nicht erreichen.« Seine Stimme klingt angespannt. »Entweder ist sie
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