Staub
Scarpetta blättert um und holt tief Luft. »Nichts«, sagt sie. »Absolut nichts, was mir mehr über Gilly verraten würde. Sie wurde erstickt und hatte Lack- und Metallsplitter im Mund. Mr. Whitbys Verletzungen hingegen weisen deutlich darauf hin, dass er von dem Traktor überrollt worden ist. Aber wir sollten uns den Spaß erlauben, nachzuprüfen, ob er möglicherweise Verbindungen zu den Paulssons hatte.«
»Sie weiß es sicher«, meint Marino.
»Du rufst sie nicht an.« In dieser Situation kann sie nicht anders, als ihm Vorschriften zu machen. Er darf Suzanna Paulsson nicht anrufen. »Provoziere es nicht.« Sie sieht ihn an.
»Ich habe doch nicht gesagt, dass ich es tun werde. Vielleicht kannte sie ja den Traktorfahrer. Verdammt, möglicherweise hat er auch mitgespielt, und sie hatten einen Perversenclub.«
»Tja, Nachbarn sind sie jedenfalls nicht.« Scarpetta studiert die Papiere in Whitbys Akte. »Er hat in der Nähe des Flughafens gewohnt, nicht dass das unbedingt eine Rolle spielen muss. Während ich morgen im Labor bin, könntest du dich ja ein bisschen umhören.«
Marino antwortet nicht. Er hat keine Lust, mit der Polizei von Richmond zu sprechen.
»Du musst dich dem stellen«, meint sie und klappt die Akte zu.
»Wem stellen?« Er betrachtet das Telefon am Bett und denkt wahrscheinlich wieder an Bier.
»Das weißt du genau.«
»Ich kann es nicht leiden, wenn du so daherredest«, erwidert er gereizt. »So als ob ich deine Andeutungen verstehen müsste. Auch wenn es bestimmt Typen gibt, die für eine Frau, die sich kurz fasst, dankbar wären.«
Ein wenig amüsiert, verschränkt sie die Hände auf dem Aktenordner. So unwirsch reagiert er immer, wenn sie Recht hat. Sie wartet ab, was er als Nächstes sagen wird.
»Meinetwegen«, sagt er, als er das Schweigen nicht mehr ertragen kann. »Wem soll ich mich stellen? Erklär mir einfach, was zum Teufel Sache ist, denn ich drehe allmählich durch.«
»Du musst dich dem stellen, was du fürchtest. Und du fürchtest dich vor der Polizei, weil du immer noch Angst hast, dass Mrs. Paulsson dich angezeigt haben könnte. Hat sie aber nicht. Und sie wird es auch nicht tun. Also bring es hinter dich, dann legt sich auch die Angst.«
»Es geht nicht um Angst, sondern um Dummheit«, gibt er zurück.
»Gut. Dann rufst du jetzt Detective Browning oder sonst jemanden an. Denn anderenfalls wärst du dumm. Ich gehe jetzt zurück in mein Zimmer«, fügt sie hinzu, steht vom Sessel auf und schiebt ihn an seinem Platz am Fenster. »Wir treffen uns um acht in der Hotelhalle.«
34
Sie trinkt ein Glas Wein im Bett. Es ist kein sehr guter Wein, ein Cabernet mit einem scharfen Nachgeschmack. Doch sie leert das Glas bis zum letzten Tropfen, während sie allein in ihrem Hotelzimmer sitzt. In Aspen ist es zwei Stunden früher. Vielleicht ist Benton ja beim Essen, in einer Besprechung oder mit seinem Fall beschäftigt, seinem geheimen Fall, den er nicht mit ihr erörtern möchte.
Scarpetta klopft die Kissen hinter ihrem Rücken zurecht und stellt das leere Weinglas auf den Nachttisch neben das Telefon. Erst betrachtet sie den Apparat, dann den Fernseher, und sie fragt sich, ob sie ihn einschalten soll. Nachdem sie beschlossen hat, es nicht zu tun, greift sie zum Hörer und wählt Bentons Mobilnummer, weil er sie gebeten hat, ihn nicht zu Hause anzurufen. Das hat er ernst gemeint und sich unmissverständlich ausgedrückt. Ruf nicht zu Hause an, hat er gesagt. Ich gehe nicht an den Festnetzanschluss.
Das ergibt keinen Sinn, hat sie erwidert, und inzwischen scheinen seitdem Monate vergangen zu sein. Warum gehst du zu Hause nicht ans Telefon?
Ich möchte mich nicht ablenken lassen, hat er geantwortet. Also werde ich nicht rangehen. Wenn du mich erreichen möchtest, Kay, ruf mich mobil an. Bitte nimm es nicht persönlich. So ist es eben. Du kennst das ja.
Bentons Mobiltelefon läutet zweimal, dann nimmt er das Gespräch an.
»Was machst du gerade?«, fragt sie und starrt auf den dunklen Fernseher, der dem Bett gegenübersteht.
»Hallo«, sagt er, leise und ganz weit weg. »Ich bin im Arbeitszimmer.«
Scarpetta stellt sich das Zimmer im zweiten Stock des Hauses in Aspen vor, das er zum Arbeitszimmer umfunktioniert hat. Sie malt sich aus, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, vor sich ein geöffnetes Dokument auf dem Computerbildschirm. Er hat einen Fall, und sie fühlt sich besser, seit sie weiß, dass er zu Hause ist und arbeitet.
»Der Tag war ziemlich anstrengend«, meint
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