Staub
auch überstanden. Aber sie konnte den simulierten Kampfsituationen nie viel abgewinnen.«
»Dazu müsste man auch verrückt sein.«
»Ich hatte mal mit ein paar Spinnern zu tun, die tatsächlich Spaß daran hatten. Vielleicht gehöre ich ja auch dazu. Es tut zwar höllisch weh, ist aber wie ein Rausch. Warum bedauerst du es, dass sie nicht gekündigt hat? Hätte sie das tun sollen? Eigentlich sollte ich sie jetzt rausschmeißen.«
»Weil sie in deinem Haus überfallen wurde?«
»Mir ist klar, dass ich sie nicht so leicht loswerde. Sie würde mich verklagen.«
»Ja«, antwortet er. »Ich finde, sie sollte gehen. Auf jeden Fall.« Er blickt sie an und geht weiter. »Als du sie bei der Polizei von Los Angeles abgeworben hast, war dein Blick etwa so klar wie die Luft über den Bergen da drüben.« Er zeigt auf den Schneesturm. »Möglicherweise war sie ja eine gute Polizistin, aber ihre Fähigkeiten reichen nicht für das Niveau, auf dem du arbeitest. Ich hoffe wirklich, dass sie kündigt, bevor noch etwas Schlimmes passiert.«
»Ja«, stimmt Lucy reumütig zu und stößt einen Schwall gefrorenen Atem aus. »Etwas wirklich Schlimmes.«
»Es ist noch niemand ums Leben gekommen.«
»Bis jetzt nicht«, entgegnet Lucy. »Mein Gott, ich kann bald nicht mehr. Machst du das etwa jeden Tag?«
»Fast. Wenn meine Zeit es zulässt.«
»Ein halber Marathon wäre weniger anstrengend.«
»Solange man dort läuft, wo genug Sauerstoff in der Luft ist«, erwidert Benton. »Hier ist die Markierung Nummer eins. Wie du sicher gerne hören wirst, liegen eins und zwei dicht beieinander.«
»Pogue ist nicht vorbestraft. Er ist einfach nur ein Verlierer. Ich kapiere das nicht«, sagt Lucy. »Ein Verlierer, der für meine Tante gearbeitet hat. Warum? Warum ich? Vielleicht ist er ja in Wirklichkeit hinter ihr her. Könnte es sein, dass er Tante Kay die Schuld an seiner Erkrankung oder an sonst etwas gibt?«
»Nein«, antwortet Benton. »Er gibt dir die Schuld.«
»Was? Das ist doch Wahnsinn!«
»Ja, es ist wirklich nicht logisch. Du passt eben in seine verdrehten Denkmuster, mehr kann ich dazu auch nicht sagen, Lucy. Er will dich bestrafen. Wahrscheinlich wollte er dich auch bestrafen, als er Henri überfallen hat. Unmöglich zu wissen, was in einem Kopf wie seinem vorgeht. Er hat seine eigene Logik, die sich nicht mit unserer vergleichen lässt. Ich kann dir nur sagen, dass er psychotisch, nicht psychopathisch, ist und dass er sich von seinen Impulsen treiben lässt, anstatt berechnend zu handeln. Vermutlich hat er Halluzinationen und glaubt an magische Kräfte. Mehr fällt mir nicht dazu ein. Jetzt geht es los«, fügt er hinzu, als plötzlich winzige Schneeflocken um sie wirbeln.
Lucy setzt die Schneebrille auf. Die Espen, die sich zart und dunkelgrau von den weißen Bergen abheben, beginnen sich im Wind zu biegen. Kleine, trockene Schneeflocken peitschen herab, und der Wind fegt von der Seite heran, sodass sie fast umgeblasen werden, als sie sich, einen Schneeschuh vor den anderen setzend, auf der vereisten Straße weitertasten.
50
Draußen liegt eine dicke Schneeschicht auf den Zweigen der schwarzen Fichte und in den Astgabeln der Espen. Durch ihr Zimmerfenster im zweiten Stock hört Lucy das Knirschen von Skistiefeln unten auf dem vereisten Gehweg. Das Hotel St. Regis ist ein ausladender Backsteinbau, der sie an einen kauernden Drachen am Fuße des Berges Ajax erinnert. Die Seilbahn fährt so früh am Morgen noch nicht, doch die Menschen sind bereits auf den Beinen. Die Berge verstellen der Sonne den Weg, und die Morgendämmerung ist ein blaugrauer Schatten. Nichts ist zu hören bis auf die knirschenden Schritte der Skifahrer auf dem Weg zu den Pisten und Bussen.
Nach ihrem verrückten Marsch auf der Maroon Creek Road am gestrigen Nachmittag sind Benton und Lucy zu ihren Autos zurückgekehrt und auf getrennten Wegen zurückgefahren. Er war von Anfang an dagegen gewesen, dass sie nach Aspen kam. Er hatte auch nie die Absicht, sich Henri, die er kaum kennt, ins Haus zu holen. Aber so ist es nun mal im Leben: Es steckt voller merkwürdiger und unangenehmer Überraschungen. Henri ist hier. Und Lucy ebenfalls. Also hat Benton zu Lucy gesagt, sie könne aus naheliegenden Gründen nicht bei ihm wohnen. Er möchte nicht, dass sie die Fortschritte stört, die er vielleicht, wenn überhaupt, mit Henri macht. Doch heute wird Lucy sie sehen, wenn es Henri in den Kram passt. Inzwischen sind zwei Wochen vergangen, und Lucy hält die
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