Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
Schuldgefühle und die unbeantworteten Fragen nicht mehr aus. Ganz gleich, was für ein Mensch Henri auch sein mag, Lucy muss selbst dahinterkommen.
    Als der Morgen heller wird, gewinnt alles, was Benton getan und gesagt hat, an Klarheit. Erst hat er Lucy in die dünne Luft hinaufgejagt, sodass sie nicht genug Puste hatte, um zu früh zu viel auszusprechen oder ihre Angst und Wut auszutoben. Anschließend hat er sie einfach ins Bett geschickt. Sie ist kein Kind mehr, auch wenn er sie gestern so behandelt hat. Aber sie weiß, dass sie ihm wichtig ist; das hat sie schon immer gewusst. Er ist immer gut zu ihr gewesen, selbst als sie ihn gehasst hat.
    Sie wühlt aus ihrer Reisetasche eine Skihose aus Stretchmaterial, einen Pullover, lange Seidenunterwäsche und Socken hervor und legt sie aufs Bett neben die Neun-Millimeter-Glock mit der Tritium-Visierung und den Magazinen, die siebzehn Kugeln fassen. Sie benutzt diese Waffe, wenn sie davon ausgeht, sich in einem geschlossenen Raum verteidigen zu müssen, also eine Pistole braucht, die aus nächster Nähe wirksam ist, und wenn Durchschlagskraft nicht gefragt ist. Schließlich möchte sie nicht mit .40- oder .45-kalibrigen Geschossen in einem Hotelzimmer herumballern. Sie hat sich noch nicht überlegt, was sie zu Henri sagen will und was sie bei ihrem Anblick empfinden wird.
    Erwarte nichts Gutes, denkt sie. Rechne nicht damit, dass sie sich freut, dich zu sehen, oder dass sie nett und freundlich zu dir ist. Lucy setzt sich aufs Bett, zieht die Jogginghose aus und zerrt sich das T-Shirt über den Kopf. Vor dem Spiegel, der bis zum Boden reicht, bleibt sie stehen und betrachtet sich, um sicherzugehen, dass Alter und Schwerkraft noch nicht ihren Tribut gefordert haben. Das haben sie nicht, was auch kein Wunder ist, denn sie hat ihren dreißigsten Geburtstag noch vor sich.
    Ihr Körper ist muskulös und mager, aber nicht knabenhaft. Eigentlich hat sie keinen Grund, über ihr Aussehen zu klagen, doch sie wird stets von einem merkwürdigen Gefühl ergriffen, wenn sie sich selbst im Spiegel sieht. Ihr Körper wird ihr dann fremd und unterscheidet sich äußerlich von dem, was sie innerlich ist. Sie fühlt sich eigentlich nicht unattraktiv, sondern einfach nur anders. Und ihr schießt der Gedanke durch den Kopf, dass sie nie erfahren wird, wie ein Gegenüber wohl ihren Körper und ihre Berührung empfindet, ganz gleich, wie oft sie mit ihm ins Bett geht. Einerseits würde sie es gerne wissen, andererseits ist sie froh über ihre Ahnungslosigkeit.
    Dein Aussehen ist in Ordnung, denkt sie, während sie vom Spiegel zurückweicht. Dein Aussehen genügt vollkommen, sagt sie sich, als sie in die Dusche steigt. Dein Aussehen wird heute nicht die geringste Rolle spielen. Du wirst heute niemanden anfassen, hält sie sich vor Augen und dreht das Wasser an. Morgen auch nicht. Oder übermorgen. »Mein Gott, was soll ich nur tun?«, fragt sie sich laut, während das heiße Wasser heftig gegen Marmorfliesen und Glastür und gegen ihre Haut prasselt. Was habe ich getan, Rudy? Was habe ich getan? Bitte verlass mich nicht. Ich schwöre, dass ich mich ändern werde.
    Fast ihr halbes Leben lang hat sie heimlich in Duschen geweint. Als sie beim FBI anfing, war sie noch eine Schülerin, die dank ihrer einflussreichen Tante in den Sommerferien Jobs und Praktika bekam. Sie war eigentlich noch viel zu jung, um in Quantico in einem Schlafsaal zu leben, Waffen abzufeuern und sich mit Agents, die nie in Panik gerieten oder weinten, durch Hindernisparcours zu kämpfen. Zumindest hat sie sie nie panisch oder weinend gesehen und deshalb angenommen, dass sie es auch nie waren. Damals hat sie noch viele Mythen geschluckt, weil sie jung, leichtgläubig und voller Ehrfurcht war. Inzwischen weiß sie es vielleicht besser, doch die Programmierung der frühen Jahre ist nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn sie weint, was sie nur selten tut, weint sie allein. Und wenn sie Schmerzen hat, verheimlicht sie es.
    Sie ist schon fast angezogen, als ihr die Stille auffällt. Leise vor sich hin fluchend und plötzlich hektisch, kramt sie aus einer Tasche ihrer Skijacke das Mobiltelefon hervor. Der Akku ist leer. Gestern Abend war sie zu müde und unglücklich, um an ihr Telefon zu denken. Sie hat es in der Tasche vergessen, was ihr bis jetzt noch nie passiert ist. Rudy weiß nicht, wo sie ist. Ihre Tante ebenso wenig. Da sie beide den falschen Namen, unter dem sie abgestiegen ist, nicht kennen, würden sie sie auch nicht

Weitere Kostenlose Bücher