Staub
gerichtet, bietet sie ihm ihre Nacktheit unter dem Bademantel dar.
»Und zu Respekt gehört, seinen Mitmenschen eine Privatsphäre zuzugestehen. Und sich nicht aufdringlich zu entblößen«, fährt er ruhig fort. »Wir haben viel über Grenzen gesprochen. Wer anderen seine Nacktheit aufdrängt, verletzt ihre Grenzen.«
Ihre freie Hand kriecht zur Brust hinauf und zieht den Bademantel zusammen, während sie weiter ihre Zehen betrachtet und an ihnen herumspielt. »Ich bin eben erst aufgestanden«, erwidert sie, als wäre das eine Erklärung für ihren Exhibitionismus.
»Danke, Henri.« Es ist wichtig für sie zu glauben, dass Benton sie nicht sexuell begehrt, nicht einmal in seinen Phantasien. »Aber du bist nicht eben erst aufgestanden. Du bist aufgestanden, reingekommen, wir haben geredet, und dann hast du geduscht.«
»Ich heiße nicht Henri«, sagt sie.
»Wie soll ich dich sonst nennen?«
»Gar nicht.«
»Du hast zwei Namen«, spricht er weiter. »Du hast den Namen, den du bei deiner Geburt bekommen hast, und den, den du als Schauspielerin benutzt hast und immer noch benutzt.«
»Gut, dann bin ich eben Henri«, gibt sie nach und betrachtet ihre Zehen.
»Also nenne ich dich Henri.«
Sie nickt und schaut unverwandt ihre Zehen an. »Wie nennst du sie?«
Benton weiß, wen sie meint, aber er antwortet nicht.
»Du schläfst mit ihr. Lucy hat mir alles darüber erzählt.« Sie betont das Wort alles .
Benton spürt, wie kurz Wut in ihm aufsteigt, doch er lässt es sich nicht anmerken. Lucy hätte Henri nie alles über seine Beziehung mit Scarpetta verraten. Henri will ihn wieder provozieren und seine Grenzen austesten. Nein, sie durchbricht sie sogar gewaltsam.
»Warum ist sie nicht hier bei dir?«, fragt sie. »Du hast doch Urlaub, oder? Und sie ist nicht hier. Viele Leute haben nach einer Weile keine Lust mehr auf Sex. Das ist der Grund, warum ich keine feste Beziehung will, wenigstens keine lange. Kein Sex. Die meisten Leute haben nach einem halben Jahr keinen Sex mehr. Sie ist nicht hier, weil ich hier bin.« Henri starrt ihn an.
»Das stimmt«, erwidert er. »Sie ist nicht hier, weil du hier bist, Henri.«
»Sie muss sauer gewesen sein, als du ihr gesagt hast, dass sie nicht kommen kann.«
»Sie versteht das«, entgegnet er, doch jetzt ist er nicht ganz ehrlich.
Scarpetta hat es einerseits verstanden, andererseits aber auch nicht. Du kannst im Moment nicht nach Aspen kommen, hat er ihr eröffnet, nachdem er Lucys panischen Anruf erhalten hatte. Ich fürchte, ich habe einen neuen Fall, um den ich mich kümmern muss.
Dann bleibst du also nicht in Aspen, hat Scarpetta gemutmaßt.
Ich darf über den Fall nicht sprechen, erwiderte er, und wie er annimmt, vermutet sie ihn zurzeit überall, nur nicht in Aspen.
Das ist wirklich unfair, Benton, hat sie erwidert. Ich habe diese beiden Wochen extra für uns freigehalten. Ich habe auch Fälle.
Bitte hab Geduld mit mir, antwortete er. Ich verspreche, dir später alles zu erklären.
Ausgerechnet jetzt, beklagte sie sich. Der Moment ist ausgesprochen ungünstig. Wir brauchen die Zeit für uns.
Damit hat sie Recht gehabt, und trotzdem sitzt er jetzt hier mit Henri zusammen. »Erzähl mir, was du letzte Nacht geträumt hast. Erinnerst du dich daran?«, wendet er sich jetzt an sie.
Ihre geschmeidigen Finger betasten ihre linke große Zehe, als wäre sie verletzt. Benton steht auf. Beiläufig nimmt er die Glock und durchquert das Wohnzimmer in Richtung Küche. Dort öffnet er einen Schrank, legt die Pistole in ein oberes Fach, nimmt zwei Tassen heraus und schenkt Kaffee ein. Er und Henri trinken ihn schwarz.
»Er ist vielleicht ein bisschen stark. Aber ich kann auch neuen kochen.« Mit diesen Worten setzt er ihre Tasse auf einem Beistelltisch ab und kehrt zu seinem Platz auf dem Sofa zurück. »Vorletzte Nacht hast du von einem Ungeheuer geträumt. Du hast es als ›die Bestie‹ bezeichnet, richtig?« Sein aufmerksamer Blick richtet sich auf ihre traurigen Augen. »Hast du das Ungeheuer letzte Nacht wieder gesehen?«
Sie antwortet nicht. Ihre Stimmung hat sich im Vergleich zu vorhin drastisch verändert. In der Dusche muss irgendetwas vorgefallen sein, doch damit wird er sich später befassen.
»Wir müssen nicht über das Ungeheuer sprechen, wenn du nicht möchtest, Henri. Aber je mehr du mir über den Mann erzählst, desto besser kann ich ihn finden. Du willst doch, dass ich ihn finde, oder?«
»Mit wem hast du vorhin telefoniert?«, fragt sie in
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