Staub
dass du mich beobachtest. Wahrscheinlich sitzt du in der Küche, gaffst mich auf dem Bildschirm an und hast die Gegensprechanlage am Ohr, um festzustellen, ob ich atme oder Selbstgespräche führe. Also, du blöde Kuh, mach die verdammte Tür auf, sonst bleibe ich den ganzen Tag hier stehen.
Das geht etwa fünf Minuten so. Lucy wartet vor der schweren Glastür und ist überzeugt, dass sie in ihren Jeans, dem T-Shirt, der Gürteltasche und den Turnschuhen bestimmt keinen bedrohlichen Eindruck macht. Allerdings geht sie der Hausbesitzerin sicher auf die Nerven, weil sie immer wieder auf die Klingel drückt. Vielleicht steht die Dame ja unter der Dusche und glotzt gar nicht auf den Überwachungsbildschirm. Lucy läutet noch einmal. Die Frau kommt einfach nicht an die Tür. Ich wusste, dass du nicht aufmachen wirst, du blöde Ziege, sagt Lucy in Gedanken zu ihrer Nachbarin. Ich könnte hier draußen einen Herzinfarkt kriegen und umfallen, ohne dass du deinen Hintern bewegst. Also werde ich dich wohl zwingen müssen, an die Tür zu gehen. Sie denkt daran, wie Rudy vor knapp zwei Stunden seinen falschen Dienstausweis gezückt und dem Latino einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nun gut, dann versuchen wir es einmal damit und schauen, wie du dann reagierst. Sie holt eine dünnes schwarzes Mäppchen aus der Gesäßtasche ihrer engen Jeans und hält eine Dienstmarke dicht an die nicht so geheime Kamera.
»Hallo«, ruft sie laut. »Polizei. Haben Sie keine Angst. Ich wohne zwar nebenan, aber ich bin Polizistin. Bitte kommen Sie an die Tür.« Wieder läutet sie und hält ihre gefälschte Dienstmarke vor die stecknadelkopfgroße Kameralinse.
Schwitzend blinzelt Lucy ins Sonnenlicht. Sie wartet und lauscht, kann aber nichts hören. Als sie ihre gefälschte Dienstmarke noch einmal hochhalten will, ertönt plötzlich eine Stimme, die klingt, als wäre Gott eine zickige Frau.
»Was wollen Sie?«, fragt die Stimme durch einen unsichtbaren Lautsprecher, der offenbar neben der Kamera oben am Türrahmen hängt.
»Bei mir hat sich ein Fremder auf dem Grundstück herumgetrieben, Ma’am«, erwidert Lucy. »Ich dachte, es könnte Sie vielleicht interessieren, was bei Ihnen nebenan passiert.«
»Sie sagten doch, Sie wären bei der Polizei«, gibt die unfreundliche Stimme vorwurfsvoll zurück. Die Frau hat einen starken Südstaatenakzent.
»Ich bin beides.«
»Beides was?«
»Bei der Polizei und Ihre Nachbarin, Ma’am. Ich heiße Tina und würde mich freuen, wenn Sie an die Tür kämen.«
Schweigen. Dann, weniger als zehn Sekunden später, sieht Lucy durch die Glastür eine Gestalt auf sich zuschweben. Die Gestalt verwandelt sich in eine Frau Mitte vierzig, die einen Trainingsanzug und Joggingschuhe trägt. Es dauert eine Ewigkeit, sämtliche Schlösser zu entriegeln, doch schließlich hat es die Nachbarin geschafft; sie schaltet die Alarmanlage ab und öffnet einen Türflügel. Allerdings scheint sie nicht die Absicht zu haben, Lucy hereinzubitten, denn sie steht in der Tür und sieht ihre Besucherin mit unverhohlener Feindseligkeit an.
»Fassen Sie sich kurz«, sagt die Frau. »Ich mag keine Fremden und habe auch kein Interesse daran, meine Nachbarn kennen zu lernen. Ich wohne hier, weil ich keine Lust auf Nachbarn habe. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, ist das hier keine Neighborhood, sondern eine Gegend, wohin die Leute ziehen, um ungestört zu sein und ihre Ruhe zu haben.«
»Was meinen Sie mit das hier ?«, treibt Lucy ihr Spiel weiter. Sie erkennt sofort, dass sie eine egoistische, verwöhnte, reiche Zicke vor sich hat, und stellt sich ein wenig naiv. »Ihr Haus oder die Gegend hier?«
»Was?« Die ablehnende Haltung der Frau wird kurz von Verwirrung abgelöst. »Wovon reden Sie?«
»Davon, was nebenan bei mir passiert ist. Er war wieder da«, erwidert Lucy, als ob die Frau genau wüsste, worum es geht. »Es kann heute am frühen Morgen gewesen sein, aber ich bin nicht sicher, weil ich seit gestern auswärts war und gerade erst mit dem Helikopter in Boca Raton angekommen bin. Ich habe keine Ahnung, was er will, aber ich mache mir Sorgen um Sie. Es wäre wirklich nicht richtig, wenn Sie von der Bugwelle mitgerissen würden, falls Sie verstehen, was ich meine.«
»Oh«, sagt sie. Am Wellenbrecher hinter ihrem Haus liegt ein ausgesprochen schickes Boot, und sicher weiß sie genau, was eine Bugwelle ist und wie unangenehm und möglicherweise fatal es sein kann, hineinzugeraten. »Wie können Sie als
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