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Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass er diesen Raum jemals betreten hat. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, wo er ist.«
    »Man gerät leicht in Versuchung, Menschen zu unterschätzen, die man nicht leiden kann«, entgegnet sie und hilft ihm, die Laschen des Leichensacks aufzuschlagen.
    Durch zwei Wochen Kühlung wurde der Verwesungsprozess zwar aufgehalten, aber der Körper ist ausgedörrt und befindet sich auf dem Weg zur Mumifizierung. Der Gestank ist heftig, doch Scarpetta nimmt das nicht persönlich. Ein übler Geruch ist nun einmal die Art einer Leiche, sich auszudrücken, ohne damit jemandem zu nahe treten zu wollen. Gilly Paulsson ist machtlos dagegen, wie sie aussieht, riecht oder dass sie tot ist. Sie ist bleich, leicht grünlich und blutleer. Ihr Gesicht wirkt durch die Austrocknung abgezehrt, die Augen sind zu Schlitzen geöffnet, die Sklera unter den Lidern ist beinahe schwarz. Ihre trockenen, braunen Lippen sind halb geöffnet. Langes blondes Haar klebt ihr an den Ohren und unter dem Kinn. Scarpetta kann keine äußerlichen Verletzungen am Hals feststellen, auch nicht solche, die bei der Autopsie entstanden sein können, wie zum Beispiel die Todsünde eines Knopfloches, die eigentlich niemandem unterlaufen dürfte. Allerdings kommt es immer wieder dazu, wenn ein unerfahrener oder achtloser Mensch Gewebe in der Kehle beiseite schiebt, um die Zunge und den Kehlkopf zu entfernen, und dabei versehentlich die Haut durchstößt. Eine bei der Obduktion zugefügte Schnittwunde am Hals lässt sich trauernden Familien nur schwer erklären.
    Der Y-Schnitt beginnt an den Enden des Schlüsselbeins, trifft am Brustbein zusammen, verläuft nach unten, umrundet den Nabel und endet im Schambereich. Er ist mit Stichen zugenäht, die Fielding nun mit einem Skalpell öffnet, als trenne er die Nähte einer mit der Hand geflickten Stoffpuppe auf. Währenddessen nimmt Scarpetta eine Aktenmappe von der Arbeitsfläche und beginnt, Gillys Autopsieprotokoll und den vorläufigen Ermittlungsbericht durchzulesen. Sie war einen Meter sechzig groß, wog siebenundvierzig Kilo und wäre, wenn sie noch leben würde, im Februar fünfzehn geworden. Ihre Augen waren blau. In Fieldings Autopsiebericht kommt wiederholt der Ausdruck »im normalen Bereich« vor. Ihr Gehirn, ihr Herz, ihre Leber, ihre Lunge, ja, alle ihre Organe waren in genau dem Zustand, in dem sie bei einem gesunden jungen Mädchen auch sein sollten.
    Doch Fielding hat auch Spuren gefunden, die nun noch besser zu sehen sein müssten, da ihr Körper blutleer ist, während Blut, das in Form eines Blutergusses im Gewebe eingeschlossen war, sich kräftig von der leichenblassen Haut abhebt. Auf ein Körperdiagramm hat er Hämatome auf ihren Handrücken eingetragen. Scarpetta legt die Akte zurück auf die Theke, während Fielding den schweren Beutel mit den sezierten Organen aus der Brusthöhle nimmt. Sie tritt näher, um sich die Leiche anzusehen, und greift nach einer ihrer kleinen Hände. Die Hand ist eingeschrumpft, blass und feuchtkalt. Scarpetta hält sie in ihren behandschuhten Händen, dreht sie um und betrachtet den Bluterguss. Hand und Arm sind schlaff. Die Totenstarre ist abgeklungen, und der Körper sperrt sich nicht mehr, als ob es sich nun, da das Leben in ihm schon so lange erloschen ist, nicht mehr lohnt, sich gegen den Tod zu stemmen. Der Bluterguss hebt sich dunkelrot von der geisterhaft bleichen Haut ab und befindet sich direkt auf dem Rücken ihrer schlanken, verschrumpelten Hand. Die Rötung zieht sich vom Daumenknöchel bis zum Knöchel des kleinen Fingers. Ein ähnlicher Bluterguss ist auch auf ihrer anderen Hand, der linken, zu erkennen.
    »Oh, ja«, meint Fielding. »Komisch, nicht wahr? Als hätte sie jemand festgehalten. Aber wozu?« Er wickelt eine Schnur oben vom Beutel ab. Dem bräunlichen Brei darin entsteigt ein abscheulicher Gestank. »Puh! Keine Ahnung, was Sie da drin zu finden hoffen. Aber tun Sie sich keinen Zwang an.«
    »Stellen Sie es einfach auf den Tisch. Ich sehe es mir im Beutel an. Vielleicht hat sie jemand runtergedrückt. Wie wurde sie denn gefunden? Beschreiben Sie mir ihre Körperhaltung«, sagt Scarpetta, geht zum Waschbecken und nimmt ein Paar dicke Gummihandschuhe, die ihr fast bis zu den Ellenbogen reichen.
    »Ich bin nicht sicher. Als ihre Mutter heimkam, hat sie versucht, sie wiederzubeleben. Sie meint, sie könne sich nicht erinnern, ob Gilly bäuchlings, auf dem Rücken oder auf der Seite lag. Sie hat keine Ahnung, was mit

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