Staunen über den Erlöser
gesehen, wie die Menschen unter Lasten wankten, die kein Mensch tragen kann. Sie hatten das stundenlange Feilschen und Diskutieren über die kleinsten Kleinigkeiten erlebt. Sie hatten die Prachtgewänder getragen und auf den Ehrenplätzen gesessen und miterlebt, wie das Wort Gottes leer gemacht wurde. Sie hatten gesehen, wie die Religion zur Krücke wurde, die einen zum Krüppel macht.
Und sie wollten heraus aus alldem.
Es war kein kleines Risiko. Die High Society von Jerusalem würde es nicht schätzen, wenn zwei ihrer religiösen Häupter diesen rebellischen Rabbi begruben. Aber für Josef und Nikodemus war die Sache klar. In den Geschichten, die dieser junge Prediger aus Nazareth erzählt hatte, war die Wahrheit, die sie in der Höhle nie gehört hatten. Und außerdem war es ihnen wichtiger, ihre Seelen zu retten als ihre Haut.
Und so hoben sie den Leichnam vorsichtig hoch und trugen ihn zu einem unbenutzten Grab. Und zündeten damit ein Licht in der Höhle der Religion an.
Nehmen wir einmal an, diese beiden Männer hätten beobachten können, wie die Welt der Religion sich in den folgenden zweitausend Jahren entwickelte. Sie wären zu dem Ergebnis gekommen, dass sich gegenüber ihrer Zeit gar nicht so viel geändert hatte. Noch heute gibt es viel Böses, das sich in das Gewand der Religion kleidet und die Bibel als Vorschlaghammer missbraucht. Es ist nach wie vor schick, sich mit Ämtern und Titeln und Devotionalien zu schmücken, und nur allzu oft findet jemand trotz und nicht wegen der Kirche zum Glauben.
Aber sie hätten auch gesehen, dass immer dann, wenn die Religion zu religiös und die Heiligen Scheinheilige werden, Gott jemanden in der Höhle findet, der eine Kerze anzündet. Luther zündete eine solche Kerze in Deutschland an, Bischof Latimer und der Bibelübersetzer Tyndale in England. Der schottische Reformator John Knox fachte die Flamme zeitweise als Galeerensklave an, und Alexander Campbell tat das Gleiche als Prediger.
Es ist nicht einfach, eine Kerze in einer dunklen Höhle anzuzünden. Aber die von uns, denen diese mutigen Männer das Leben heller gemacht haben, sind ihnen ewig dankbar. Und es ist kein Zweifel, welcher von all den Akten des Kerzenanzündens der edelste war.
»Ihr könnt ihn abnehmen, Soldaten. Ich kümmere mich um den Rest.«
Kapitel 20
Die kleinen Zeugen
Bevor wir uns von den Zeugen der Kreuzigung verabschieden, möchte ich noch einige von ihnen vorstellen, die mir ganz besonders am Herzen liegen.
Diese Zeugen hatten eine wichtige Rolle zu spielen. Sie sagten nicht viel, aber sie waren da. Wenige beachteten sie, aber das ist nicht überraschend. Sie sind von Natur aus so still, dass man sie leicht übersieht. Selbst die Evangelisten erwähnen sie nur am Rande. Aber wir wissen, dass sie da waren. Sie mussten da sein, denn sie hatten eine Aufgabe.
Diese Zeugen taten mehr, als das göttliche Drama nur zu beobachten. Sie brachten es zum Ausdruck. Sie fingen es ein. Sie gaben der Reue des Petrus Gestalt, sie verrieten die Schuld des Pilatus und enthüllten die Seelenqual des Judas. Sie zeigten die Verwirrung des Johannes und übersetzten das Mitleid Marias.
Aber ihre Hauptrolle spielten sie beim Messias selbst. Mit der größten Zartheit und Zurückhaltung brachten sie seinem Schmerz Linderung und gaben sie seiner Sehnsucht Gestalt.
Wer waren diese Zeugen? Sie werden vielleicht überrascht sein.
Tränen.
Jene winzigen Menschlichkeitstropfen. Jene runden, nassen Kugeln, die aus unseren Augen fallen, unsere Wangen hinabrollen und auf dem Boden unserer Herzen landen. Sie waren dabei an jenem Tag. Sie sind immer dabei bei solchen Szenen. Sie sollen sogar dabei sein; das ist ihre Aufgabe. Sie sind die kleinen Boten, die rund um die Uhr bereitstehen, um einzuspringen, wo Worte versagen. Sie tropfen, rieseln, sprudeln aus den Tiefen unserer Seele, beladen mit den tiefsten Gefühlen, die wir haben. Sie schießen unser Gesicht hinab mit Botschaften, die von der höchsten Freude bis zur schwärzesten Verzweiflung reichen.
Das Prinzip ist einfach: Wo Worte am leersten sind, sind Tränen am reichsten.
Ein Tränenfleck auf einem Brief kann mehr sagen als sämtliche Worte in ihm. Eine Träne, die auf einen Sarg fällt, sagt mehr, als eine ganze Abschiedsrede je vermag. Was erregt die Fürsorge einer Mutter schneller als eine Träne auf der Wange des Kindes? Was ist solidarischer als die Mitleidsträne auf dem Gesicht des Freundes?
Die Worte versagten an dem Tag, als der Erlöser
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