Staunen über den Erlöser
»Mein Herr und mein Gott!« (Johannes 20,28).
Jesus hat bestimmt gelächelt.
Er wusste: Mit Thomas konnte er Pferde stehlen. Man mische Loyalität mit ein wenig Fantasie, und man bekommt einen Mann Gottes. Jemanden, der bereit ist, für die Wahrheit zu sterben. Schauen wir uns Thomas nur weiter an. Nach der Legende stieg er auf den nächsten Frachter nach Indien, wo sie ihn schließlich umbringen mussten, damit er endlich aufhörte, von seiner Villa im Himmel zu reden und von seinem Freund, der von den Toten auferstanden war.
Kapitel 19
Eine Kerze in der Höhle
Sie kommen als Freunde. Heimliche Freunde, aber Freunde. »Ihr könnt ihn abnehmen, Soldaten. Ich kümmere mich um den Rest.«
Die Nachmittagssonne brütet über dem Hügel. Es ist viel stiller als noch vor einer Stunde. Die Menge hat sich zerstreut. Die beiden Verbrecher stöhnen leise vor sich hin; lange kann es nicht mehr dauern, dann sind auch sie tot. Ein Soldat lehnt eine Leiter an den Stamm des mittleren Kreuzes, steigt hinauf und zieht den Pflock heraus, der den Querbalken mit dem Stamm verbindet. Zwei seiner Kameraden, froh, dass ihr Tag bald zu Ende ist, helfen ihm, den schweren Balken aus Zypressenholz, an dem der Leichnam hängt, auf den Boden zu legen.
»Vorsichtig«, sagt Josef.
Sie ziehen die handbreitlangen Eisennägel aus dem harten Holz und aus den erschlafften Händen. Sie heben den Leichnam, in dem der Heiland gewohnt hat, hoch und legen ihn auf einen großen Stein.
»Bitte«, sagt der Offizier. Seine Leute legen den Querbalken beiseite, zum Rücktransport ins Magazin, bis er das nächste Mal gebraucht wird.
Die beiden vornehmen Herren sind diese Art von Arbeit nicht gewöhnt, aber ihre Bewegungen sind rasch. Josef von Arimathäa kniet sich hinter Jesus’ Kopf hin und wischt mit einem weichen, feuchten Tuch das Blut von dem zerschundenen Gesicht. Das Blut aus dem Garten, das Blut von der Geißelung, das Blut von der Dornenkrone. Danach drückt er die Augen fest zu.
Nikodemus rollt das Leintuch, das Josef mitgebracht hat, auseinander und breitet es auf dem Boden neben dem Leichnam aus. Dann heben die beiden gemeinsam den Leichnam hoch und legen ihn auf das Tuch. Als Nächstes balsamieren sie einige seiner Körperteile mit wohlriechenden Salben ein. Als Nikodemus die Aloe auf die Wangen des Herrn gibt, brechen die Gefühle, die er so sorgfältig zurückgehalten hat, sich Bahn. Eine Träne fällt auf das Gesicht des gekreuzigten Königs. Er hält inne, um die nächste abzuwischen. Der Jude, ein Mann mittleren Alters, betrachtet sehnsüchtig den jungen Galiläer.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Jesus’ Begräbnis nicht von denen vorgenommen wird, die so beteuert haben, dass sie ihn nie verlassen würden, sondern von zwei Mitgliedern des Sanhedrin (Hohen Rates) – also zwei Vertretern eben jener religiösen Gruppe, die den Messias ans Kreuz geliefert hat.
Doch andererseits hat vielleicht kein anderer diesem zerschundenen Leib so viel zu verdanken wie diese beiden. Der Messias hatte viele aus der Grube der Sklaverei oder Krankheit gezogen. Und aus der dunklen Höhle der Perversion und des Todes. Aber keine Höhle ist je finsterer gewesen als die, aus der diese beiden freikamen.
Die Höhle der Religion.
Noch dunkler kann eine Höhle nicht sein. Sie ist ein ganzes Labyrinth von Kammern und jähen Abgründen. Sie stinkt von verschimmelten guten Absichten. Das Labyrinth ihrer Gänge ist verstopft von Herumirrenden, die keinen Ausgang finden, und auf dem Boden sind Weinlachen und zerrissene Weinschläuche.
Kein normaler Mensch würde freiwillig einen jungen Glauben in dieses Tunnelsystem tragen. Junge Gehirne, die ihre Fragen stellen, werden rasch schal in der lähmenden Dunkelheit. Neue Einsichten werden erstickt, um brüchige Traditionen zu schützen. Originalität ist nicht erwünscht, gesunde Neugierde wird unterdrückt, Prioritäten verdreht.
Christus hatte für die religiösen Höhlenbewohner nichts als Verurteilung übrig. »Heuchler« nannte er sie, gottlose Schauspieler, Zaunbauer, gnadenlose Richter, Haarspalter, »blinde Blindenleiter«, »getünchte Gräber«, »Schlangen«. Jesus hatte null Toleranz für jene Spezialisten, die aus der Religion einen heiligen Krieg und aus dem Glauben einen Hürdenlauf machten (vgl. Matthäus 23).
Und Josef und Nikodemus? Sie waren das religiöse Höhlensystem herzlich leid. Sie kannten es von innen. Sie kannten die ellenlangen Regel- und Verbotslisten, sie hatten
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