Staustufe (German Edition)
zehn Minuten später angelandet wurde, reichte Winter ein Blick, um zu erkennen, dass es sich um das Opfer eines Verbrechens handelte. Es war einer dieser Anblicke, die einem in die Magengrube fuhren. Die Verletzungen waren so schwer, dass sich Geschlecht und Alter nicht ohne weiteres erkennen ließen. Ein Kind, dachte Winter zuerst, weil der Körper so grazil wirkte. Doch Freimann vom Erkennungsdienst korrigierte: eine Jugendliche. Winter atmete auf, als die Leiche endlich im Transporter und auf dem Weg in die Rechtsmedizin war.
Schaulustige drängten sich jetzt am Absperrband. Viele von ihnen warteten allerdings bloß darauf, endlich über die Staustufe hinüber nach Schwanheim gelassen zu werden. Der Fußgängersteg war noch immer nicht begehbar. Nicht nur zu Winters Erstaunen hatten sich schwache Blutspuren gefunden, oben an der Brüstung, trotz des sporadischen Regens. Es schien tatsächlich so, als habe man die Tote hier ins Wasser geworfen.
«Ihnen ist klar, was das bedeutet», sagte Winter nach dem Abtransport der Leiche etwas aggressiv zu Aksoy, die vor Kälte schnatterte.
«Was, dass Sie mir einen schriftlichen Verweis für Inkompetenz in die Personalakte hauen? Weil ich da ohne Schutzanzug hochgegangen bin und das Spurenbild verdorben habe?»
«Das würde ich niemals wagen. Sie würden mich dann ja wegen Diskriminierung Ihres werten Geschlechts sofort beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagen. Was ich sagen wollte, war: Es steht eine Nachbarschaftsbefragung an. Sie haben gehört, was Freimann gesagt hat. Die Tote war nicht lange im Wasser. Keine Waschhaut an den Fingern. Wahrscheinlich ist sie erst gestern Nacht oder heute früh in den Main geworfen worden. Ich werde die Arbeiter im Staukraftwerk befragen. Sie übernehmen die Wohnhäuser am Ufer. Nehmen Sie sich jemanden vom Revier mit.»
Aksoy schob sich die Kapuze aus dem Gesicht. «Wir könnten es hier mit einer Serie zu tun haben», sagte sie in wissendem Ton, völlig aus dem Zusammenhang. «Schlecht ernährtes weibliches Opfer in jugendlichem Alter, Misshandlungsspuren …»
Bei Winter klingelte es. «Ja, Frau Aksoy, mir ist bewusst, dass wir hier vor ein paar Jahren schon einmal ein totes Mädchen aus dem Main gefischt haben. Und auch dass der Fall nie geklärt wurde. Danke für den Hinweis. Aber wir bei der Mordkommission können durchaus selbst denken. Machen Sie sich an Ihre Arbeit.»
«Hast du persönlich was gegen die?», fragte Gerd, als Hilal Aksoy mit einem uniformierten Kollegen vom 17. Revier im Schlepptau davonrauschte.
«Nein», erwiderte Winter schroff und schob die Hände in die Taschen. «Jedenfalls bis auf die Tatsache, dass sie was gegen mich hat. – Übrigens, lieber Gerd, brauchst du nicht so zu tun, als ob dich dieser Fall gar nichts mehr angeht. Auch wenn du nächste Woche in deine geliebte Heimat versetzt wirst, du treulose Tomate …»
Gerd grinste. «Weißt du, dass ich allmählich kalte Füße kriege? Seit fünfzehn Jahren läuft mein Versetzungsantrag. Und jetzt, wo’s so weit ist, kommt’s mir plötzlich, dass ich sie vermissen werde, diese hässliche, dreckige, eingebildete Scheißstadt.»
So hässlich war Frankfurt gar nicht am Griesheimer Mainufer. Hilal Aksoy konnte sich eines gewissen Neids nicht erwehren, als sie die Jugendstilvillen betrachtete, die im Bereich der Staustufe den Fluss säumten, nur durch Bäume und einen Fußweg vom Ufer getrennt. Der Fluss war an dieser Stelle enorm breit. In der Mitte lag eine verwilderte Insel. Von den Dachterrassen und Loggien der Villen aus musste der Blick phänomenal sein.
Sie begannen die Befragung allerdings bei einem überhaupt nicht nobel wirkenden flachen Ziegelgebäude mit einem kahlen Garten. Das Haus lag unterhalb der Staustufe. Hier war der Mainblick nicht so idyllisch wie am Oberwasser: Man sah auf Stauwalzen, Schleusenmauern und Befestigungsbohlen. Der Ziegelbau bildete das Ende der Wohnbebauung am Griesheimer Ufer. Patrick Heinrich vom Revier erklärte Aksoy, die noch nie hier gewesen war, dass sich weiter flussabwärts Chemiewerke befanden.
Die Eingänge des Ziegelhauses lagen auf der mainabgewandten Seite, zur Straße hin. Das Gebäude war offensichtlich ehemals eine Fabrik oder Lagerhalle gewesen, die man mehr schlecht als recht in zweigeschossige Reihenhäuser aufgeteilt hatte.
«Dipl.-Ing. B. Stolze, Consulting», verkündete ein stählernes Schild an der ersten der drei Haustüren. Stolze war der Name des Zeugen
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