SteamPunk 3: Argentum Noctis: SteamPunk (German Edition)
weitere Vermutungen für später auf. Charles wollte nachsehen – und ich auch.
„Ich lenke die Wache ab“, sagte ich. Es tat gut, endlich wieder etwas tun zu können und so wartete ich nicht darauf, dass jemand Einwände erhob. Schnell wie die – unter uns gesagt – maßlos überschätzten Wiesel flitzte ich durch die Dunkelheit und pirschte mich in den Rücken des arglosen Mannes. Mühelos kletterte ich auf eine Kiste, auf der der Wächter seinen lange geleerten Teebecher und eine Handlampe abgestellt hatte. Aus der Deckung der Tasse warf ich einen verstohlenen Blick auf mein Opfer. Er mochte Ende fünfzig sein. Schütteres blondes Haar, Knollennase und war leider viel zu aufmerksam. Dann also der Frontalangriff ...
„Oh nein!“, rief ich. „Du halluzinierst!“
„Häh?“, meinte der Mann wenig geistreich. Er schien sich kein bisschen zu erschrecken, sondern suchte nur verwirrt nach dem Eigentümer der Stimme.
„Hier unten, bei deinem Becher!“
Ungläubig schaute er zu mir herunter.
„Na, schau mal nicht so entgeistert. Ich kann nichts dafür, dass ich so aussehe.“
„Häh?“
„Schlimm, schlimm. Du halluzinierst und kannst auch nicht mehr in ganzen Sätzen reden.“ Erschüttert schüttelte ich den Kopf.
Sein Gesicht verzog sich zu einem debilen Grinsen. „Eine sprechende Maus?“
„Und deine Augen sind so schlecht geworden, dass du nicht einmal deine eigenen Halluzinationen gut genug erkennen kannst um zwischen Mäusen und Ratten zu unterscheiden.“ Wieder schüttelte ich mit ernster Miene den Kopf. Ja, ich gebe zu, dass meine Diagnose für einen gebildeten Menschen wenig überzeugend war. Erfreulicherweise war mein Opfer – gelinde gesagt – bildungsfern .
„Du bist ja putzig“, meinte er.
Ich rollte mit den Augen. „Du hast keine Ahnung, was eine Halluzination ist, oder?“, fragte ich lapidar.
„Nö. Kenn ich nicht.“
Jetzt musste ich meine Erschütterung nicht mehr spielen. „Du bildest dir nur ein, dass ich hier bin. In Wirklichkeit gibt es mich gar nicht“, erklärte ich.
Er runzelte die Stirn. Sein Verstand schien lange nicht mehr bemüht worden zu sein. Nach einer Ewigkeit brachte er das Ergebnis seiner Überlegungen mit äußerster Eloquenz auf den Punkt: „Häh?“
„Du bist verrückt.“ Meine einfache Erklärung ließ seine Augen verstehend aufleuchten.
„Aha!“
Vermutlich waren drei Worte pro Satz genau die Menge, die der traurige Inhalt seines Kopfes verarbeiten konnte. Angesichts seiner fröhlichen Reaktion war ich jedoch nicht sicher, dass er die Tragweite meiner Behauptung begriffen hatte. Meine schöne Geschichte, nach der er sein Unterbewusstsein vor übermäßigem Alkoholkonsum warnen wollte, ging wohl über seinen Horizont.
„Dagegen musst du etwas tun“, erklärte ich. Erstaunlicherweise schluckte er die fünf Worte in einem Stück.
„Was denn?“
„Halte dich vom Alkohol fern“, meinte ich mit gewichtiger Stimme. Auf einer Kanzel hätte ich nicht überzeugender wirken können.
„Aber ich saufe nicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Hat mir meine Alte verboten; hab sie zu oft verhauen.“
Ich schloss einen Moment die Augen, um tief durchzuatmen. Dann fragte ich: „Rauchst du?“
„Nö.“
„Kautabak?“
„Nö.“
„Opium?“
„Nö.“
„Exotische Kräutertees?“
„Wasn das?“
Ja hatte der Mann denn gar keine Laster?
„Hör mal“, meinte der Trottel plötzlich. „Wo du gerade Tee sagst: Ich geh mir noch welchen holen. Bin in fünf Minuten wieder da. Wart hier, ja?“
„Es gibt mich nicht“, meinte ich ärgerlich. „Ob du mich siehst hängt nur davon …“
„Also bist du noch da, wenn ich zurückkomme, oder nicht?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.
Ich seufzte leise und zuckte mit den Schultern. „Ja, klar.“
„Prima“, meinte er. „Dann bis gleich.“ Mit schlurfenden Schritten verschwand er in der Dunkelheit.
Charles war von meinem vorschnellen Ablenkungsmanöver wenig erbaut. Dennoch nutzte er natürlich die Gelegenheit, ungesehen durch den erleuchteten Bereich zu huschen. Seine Neugier war nicht ungefährlich; schon mehrere Meter von der Ruine entfernt war die Hitze des Feuers noch immer spürbar. Zudem erschwerte ihm der kurze Aufenthalt zwischen den hellen Laternen die Orientierung im Dunkel der Ruine. Nur spärlich überwanden die künstlichen Lichtquellen die noch immer standhaften Grundmauern. Doch die Natur kam Charles zu Hilfe. Ein wolkenloses Firmament tauchte die Szenerie
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