Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Konstantinopel an den Persischen Golf. Konsequent übersehen wurde in Berlin aber, welche Irritationen diese Politik in London, St. Petersburg und Paris auslöste. Während die Nachbarn ihre Interessensphären diplomatisch
abzugrenzen wussten und sich in Asien und Afrika verständigten, steckte das Reich bald tief in einer außenpolitischen Dauerkrise. Als es im Frühjahr 1904 zur Entente cordiale zwischen England und Frankreich kam, wurden in Berlin erstmals Pläne des Generalstabs für einen Präventivkrieg gegen Frankreich diskutiert. Noch fürchtete man in der Wilhelmstraße die Auswirkungen einer militärischen Eskalation und begnügte sich damit, den Kaiser bei seiner nächsten Mittelmeerkreuzfahrt im fernen Marokko an Land gehen zu lassen, um den Franzosen die Leviten zu lesen. Zehn Jahre später aber hatte die Logik der Militärs sich so weit verselbständigt, dass ein vermeintlich kurzer Waffengang allen Beteiligten als einzig mögliche Lösung erschien.
Der Chauvinismus der wilhelminischen Epoche war George zuwider. Solange die Nation ihr Selbstvertrauen aus Schiffsregistern und Stahlexportquoten bezog und die Anzahl der jährlichen Patentanmeldungen als Ausweis ihrer kulturellen Überlegenheit verstand, gab es zwischen ihr und ihm nichts Verbindendes. »Wer weiss ob man als echter freund der Deutschen ihnen nicht eine kräftige SEE-schlappe wünschen soll damit sie jene völkische bescheidenheit wieder erlangen die sie von neuem zur erzeugung geistiger werte befähigt.« Schon damals, Ende 1905, als ihn Hofmannsthal aufforderte, angesichts eines drohenden deutsch-englischen Krieges einen offenen Brief mit zu unterzeichnen, erschien George die Kluft zwischen Geist und Politik unüberbrückbar. Krieg sei für ihn »nur lezte folge eines jahrelangen sinnlosen draufloswirtschaftens von beiden seiten«, antwortete er. Käme die Initiative »nicht von Einem dessen verstand ich aufs höchste bewundre: so würde ich sie für einen scherz halten«. 12
Militarismus bedeute das Übergewicht der Mittel über den Zweck, schrieb Simmel, und darin sehe er eines der signifikanten Merkmale der Epoche. »Die äußerste Anspannung der militärischen Kräfte wird als das einzige Mittel gepriesen, ihre eigene Entladung zu verhindern.« 13 Ein Beschleunigungsprozess entstehe, der sich zwangsläufig verselbständige und eines Tages zu einer enormen Gefahr für Europa
werden müsse. Der Zusammenhang war auch unter Politikern nicht unbekannt. Mit geradezu Simmelscher Präzision hatte der Zar im Sommer 1899 auf der von ihm angeregten ersten Haager Friedenskonferenz gewarnt, wenn »der sich beschleunigende Rüstungswettlauf« andauere, werde er »genau zu der Katastrophe führen, die er abzuwenden sucht«. 14
Anders als der Großteil der Nation, der mit einer von Krise zu Krise wachsenden Unruhe einer Entscheidung entgegenfieberte, glaubte George nicht, dass ein Krieg zur Klärung der Verhältnisse beitragen werde. »Nie kommt / Durch weg und waffe dieser welt mehr heil!«, hatte er 1902 zum Ausgang des Burenkrieges als Trost für Verwey gedichtet. 15 Als Deutschland im August 1914 von einer Welle kollektiver Hysterie erfasst wurde, blieb George erst einmal in der Schweiz. Auch in der Stunde der Mobilmachung wollte er das Gerede »von heimischer tugend und von welscher tücke« 16 nicht gelten lassen. Statt eines schnellen Sieges beschwor er die Substanz der in seinem Geist erzogenen deutschen Jugend und deren Zukunftsfähigkeit. Sieben Jahre vor der Katastrophe, am Ende des Siebenten Rings , hatte George seine Vision des Krieges auf diese vier Zeilen gebracht:
Ich sah von fern getümmel einer schlacht
So wie sie bald in unsren ebnen kracht.
Ich sah die kleine schar ums banner stehn …
Und alle andren haben nichts gesehn. 17
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Mit Streifzügen durch die Nationalgeschichte sicherte sich George die historischen Rahmenbedingungen für seinen Auftritt. Vierzehn Zeitgedichte , mit denen der Siebente Ring 1907 eröffnet wurde, bildeten das hohe Gerüst, von dem er seine Schmäh- und Brandreden gegen eine lasch gewordene, verderbte und verrohte Nation herabschleuderte. 18 Die Salier und Staufer, Rudolf von Habsburg, Nietzsche und Böcklin, Goethe, Dante – sie alle ruft er als Kronzeugen auf
im Kampf gegen den allgemeinen Niedergang. Er polemisiert gegen den Budenzauber verlogener Goethefeiern (»Was wisst ihr von dem reichen traum und sange / Die ihr bestaunet!«), bricht eine Lanze für Heinrich IV. (»der orte sind für euch /
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