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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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Von schmählicherem klange als Kanossa«) und erklärt die Reformation zu einem Betriebsunfall. Die Schelte gipfelt in der Rede eines römischen Strichjungen, der nachts um die Porta Nigra schleicht, auf der Suche nach Kundschaft unter den Söldnern, und der sich plötzlich in die Gegenwart versetzt sieht: »Er möchte über euch kein zepter schwingen / Der sich des niedrigsten erwerbs beflissen / Den ihr zu nennen scheut -«
    Die Ahnengalerie der Deutschen wird gründlich durchforstet, es wird ausgeräumt und umgeräumt, und manches lieb gewonnene Porträt verschwindet auf Nimmerwiedersehen in den Depots. Was wird dem Betrachter stattdessen präsentiert? Das Gedicht »Leo XIII« huldigt dem über neunzigjährigen Papst (1878-1903), von dem George zu rühmen weiß, dass er in seinen schlaflosen Nächten Gedichte auf die Jungfrau Maria verfasst. Ein anderes Gedicht verewigt Elisabeth von Österreich, den Deutschen besser bekannt unter dem Namen Sisi, und ihre jüngere Schwester Sophie von Alençon: »Wer sie gesehn: von echtem königtume … / Empfing der hoheit schauer«. In dem gewaltsamen Tod, den sie kurz hintereinander fanden, hätten sich der heimliche Wunsch nach einem vorzeitigen Ende auf der Höhe des Lebens und dunkle Ahnungen des Hauses Wittelsbach auf tragische Weise verknüpft. Einzug in Georges Walhalla hielt auch der in einem Lokalaufstand der Griechen gegen die Türken 1897 bei Jannina gefallene Clement Hugh Gilbert Harris, ein junger englischer Musiker, der zum Bayreuther Kreis um Cosima Wagner zählte und dem George einmal flüchtig in Frankfurt begegnet sein könnte.
    Ein greiser Papst, eine unglückliche Kaiserin, ein exzentrischer Engländer, den es auf den Spuren Byrons nach Griechenland zog: Es war eine merkwürdige Galerie, durch die das Publikum hier geleitet wurde. Nach Georges Verständnis handelte es sich bei allen, die von ihm in den Zeitgedichten als Leitbilder vorgestellt wurden, um Märtyrer, die sich um einer einzigen, sie mächtig beflügelnden Idee
willen dem Trend der Zeit widersetzt hatten. Durch ihr Opfer sei verhindert worden, heißt es im Boecklin-Gedicht, dass »in kalter zeit das heilige feuer losch«. Auch George reiht sich ein in die lange Reihe dieser »Wächter«. Schildert er im ersten Gedicht seinen Werdegang noch einmal als die Geschichte seiner Verkennung durch die Zeitgenossen, so wendet er sich im letzten direkt an seine Freunde. »Ich euch gewissen, ich euch stimme«, ruft er ihnen zu und appelliert an sie, trotz aller Finsternis den Mut nicht zu verlieren: »Lasst euch die fackel halten.«
    Mit den Zeitgedichten rückt George seinem Ziel, »das Werk zum privilegierten Kontext seiner selbst zu machen«, ein großes Stück näher. 19 Es handelt sich nämlich nur scheinbar um Stellungnahmen zur Zeit, in Wirklichkeit geht es um die Frage der richtigen Wahrnehmung. Die Zeitgenossen leben in einer Scheinwelt; ihnen fehlt, was den Dichter zu klarem Urteil befähigt. Innenwelt und Außenwelt sind wie vertauscht. Der imaginäre Raum der Zeitgedichte wird zur eigentlichen Welt. Er kenne keinen zweiten Lyriker, schrieb Georg Simmel in seiner Rezension, »der in so ausschließlichem, ich möchte sagen, metaphysischem Sinne nur aus sich heraus lebte, und der es so zwingend fühlbar machte, daß alles objektive Sein, in sein Werk hineingenommen, nur die verteilten Rollen sind, in denen seine Seele sich selbst spielt«. 20
    Aus dieser Sicherheit heraus suchte George jetzt die Auseinandersetzung mit dem Publikum. Am Tag nach der ersten öffentlichen Lesung der Zeitgedichte vor etwa 80 geladenen Gästen im Haus seines Verlegers Bondi erklärte er, »die Zeit seines einsamen Hervortretens sei vorüber«. 21 Es war ihm nie schwer gefallen, sich von anderen zu unterscheiden, im Gegenteil; seine Kunst, sich abzugrenzen, hatte wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen. »In der Aufrechterhaltung des Gegensatzes zu der Umwelt, in dem Nichteingeordnetwerden« habe George seine Hauptaufgabe gesehen, notierte sich Wolters. 22 Aber je größer der Wirkungsradius wurde, desto schwieriger ließ sich der Anspruch auf Exklusivität durchsetzen.
    Das Publikum seinerseits verband mit dem Jahrhundertwechsel,
wie mit jeder Zeitenwende, große Erwartungen. Der Segnungen der Zivilisation überdrüssig, verlangte man in den bürgerlichen Kreisen nach dem »Echten« und »Natürlichen«. Was den einen die Heftchen der Lebensreform, waren den anderen die 1899 erschienenen Welträtsel des Jenaer Zoologen

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