Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
mich damals begriffen und die rechte auffassung von diesem mir übersinnlichen ereignis hatten.« 38
Nach Fertigstellung des Gedenkbuchs erhielt auch Sabine Lepsius einen ausführlichen Brief. Sie hatte George für die Sommerferien nach Graubünden eingeladen und sich bei dieser Gelegenheit beschwert, lange nichts von ihm gehört zu haben – wie es ihm denn gehe. George verbat sich jede Erkundigung nach seiner Privatsphäre. Alles, was er erdulde, erdulde er, um seinen Freunden eine Stütze sein zu können:
Warum soll ich meinen freunden von den gefährlichen abgründen berichten die alle meine fahrten begleiten? – und grad von den lezten besonders furchtbaren – indessen sie die freunde nichts können als in mitleidiger ferne hilflos dastehn … Ich kann mein leben nicht leben es sei denn in der vollkommnen äussern oberherrlichkeit, was ich darum streite und leide und blute dient keinem zu wissen. Aber alles geschieht ja auch für die freunde. Mich so zu sehen wie sie mich sehen ist ihr stärkster lebenstrost. So streit und duld und schweig ich für sie mit. Ich gehe immer und immer an den äussersten rändern – was ich hergebe ist das lezte mögliche … auch wo keiner es ahnt. 39
Dass er die Last der Verantwortung für andere mittrage und seinen Freunden Vorbild und Stütze sei, war schon früh wesentlicher Bestandteil der Georgeschen Selbstinszenierung gewesen. In konsequenter Fortführung dieser Stellvertreterrolle steigerte George seine Passionsfähigkeit jetzt bis zu dem Punkt, wo er den plötzlichen Tod eines von ihm geliebten Menschen nur noch unter dem Gesichtspunkt seiner Symbolhaftigkeit für die Mit- und Nachlebenden zu sehen vermochte. Die Faktizität der Beziehung rückte dabei umso mehr in den Hintergrund – auch in Georges eigener Wahrnehmung -, je stärker der Tod des Frühvollendeten gemeinschaftsbildende Wirkung entfaltete. Die Welt sollte Maximin so sehen, wie er, der Dichter, ihn sah, eine andere Wirklichkeit als die der Dichtung konnte es nicht geben.
Angetreten seien sie eigentlich als »des wunders nie wankende wächter« in einer schlimmen Zeit, schrieb Karl Wolfskehl 1910 in den Blättern . Wenn aber das Wunder sich nicht mehr ereigne, wenn die Offenbarung ausbleibe, seien die Wächter aufgefordert, das Heiligtum zu verhüllen und noch sorgfältiger abzuschirmen gegen die Menge als bisher. »So muss das leben sich selber schaffen, sein eigen bild werden … So müssen wir uns zeugend uns gebären. Uns erfüllen in uns. Uns erneuen durch uns.« Da alle ihre nächtlichen Beschwörungen nicht gefruchtet hatten und die erhoffte Gesamterneuerung ausgeblieben war, musste man die Wiederverzauberung des Lebens eben selber in die Hand nehmen. Nichts anderes sagte Wolfskehl mit dem für das Verständnis des Maximin-Kults entscheidenden Satz: »Denn jezt in der lezten not müssen wir selber das wunder werden.« 40
Das eigentliche Wunder sei nicht die Erscheinung Maximins gewesen, wird es bei Wolters später heißen, sondern der Meister, dem es dank seines unerschütterlichen Vertrauens gelungen sei, das Wunder herbeizuführen. »Ergeben steh ich vor des rätsels macht: / Wie er mein kind ich meines kindes kind..« 41 Was die spezifischen Vorstellungswelten angeht, in denen George sich dabei bewegte, so sind vor allem katholische und frühchristlich apokryphe Überlieferungen sowie im Hintergrund die Einflüsse der Klages-Schulerschen Kosmogonie erkennbar, gegen die George sich abzusetzen suchte. Wie sich die einzelnen Bausteine nach dem 15. April auch zusammenfügten, klar ist: Plan und Anlage des Ganzen standen fest, bevor George Maximilian Kronberger begegnet war. Dies bezeugen nicht zuletzt die beiden Freunde, die George am längsten kannten, Verwey und Wolfskehl. »Ich wusste, dass die Konzeption von Maximin schon bestand, bevor Maximin selbst erschien«, schrieb Verwey in seinen 1934 erschienenen Erinnerungen. 42 Und knapp zehn Jahre später heißt es in einem Brief Wolfskehls, verklausuliert, aber doch eindeutig in der Tendenz: »Sachlich glaube ich nicht, dass die Apotheosis Maximini der Erschütterung durch den Todesfall entstammt.« 43
Mit Maximin hatte George eine zukunftweisende Lösung gefunden, in der sich seine Sehnsucht nach der großen Liebe mit der Heilsgewissheit seiner dichterischen Sendung verband. Die Ausführung
des Plans begann am Tag der Niederschrift der Gedenkrede, die George als Erstes in Angriff genommen haben dürfte. In der Erinnerung an den Toten pries er
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