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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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die Erfüllung, die ihm im Umgang mit dem Lebenden versagt geblieben war. Weil die Freundschaft mit Maximin erst im Tod ihren Höhepunkt fand – so die Rhetorik der Grabrede -, soll die Feier seines Todes zum bleibenden Vermächtnis für die Hinterbliebenen werden:
    Wir stürzten nieder in der dumpfen verzweiflung der zurückgelassenen gemeinde, wir wanden uns in sinnlosem schmerz dass wir niemals wieder diese hände berühren dass uns niemals wieder diese lippen küssen dürften. Da drang seine lebendige stimme in uns und belehrte uns über unsre torheit die ihn hier noch zwingen wollte … Wir können nun gierig nach leidenschaftlichen verehrungen in unsren weiheräumen seine säule aufstellen uns vor ihm niederwerfen und ihm huldigen woran die menschliche scheu uns gehindert hatte als er noch unter uns war. 44

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    Nachdem George im Juni 1904 zehn Tage bei Verwey in Noordwijk verbracht hatte und im Juli mit seiner Schwester und Gundolf für vier Wochen in die Schweiz gefahren war, traf er Mitte September wie gewohnt in Berlin ein. Es galt einige Publikationsvorhaben voranzutreiben, in erster Linie die beiden Bände Zeitgenössische Dichter , in denen George den Großteil seiner seit zwölf Jahren in den Blättern veröffentlichten Übersetzungen zusammentrug. Parallel dazu erschienen im Verlag der Blätter für die Kunst einige Sonderausgaben mit Übertragungen. Was George an der Jahreswende 1904/05 präsentierte, war die Ausbeute seiner Streifzüge durch die europäische Dichtung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Er betonte noch einmal die Vorreiterrolle, die er bei der Entdeckung der von ihm übersetzten Autoren vor Jahren gespielt habe, und zog damit zugleich einen Schlusstrich. Weder die weitere Entwicklung der Dichtung in Frankreich, England, Holland oder Italien noch die Pflege eines europäischen Netzwerks interessierten ihn mehr.

    Dass der Verlust der europäischen Perspektive in Georges Schaffen und die Entstehung des Maximin-Mythos Hand in Hand gingen, erfasste als Erster Albert Verwey. Im Sommer 1900 war es über den Vorbereitungen zu einem gemeinsamen Buch zu einer ersten nachhaltigen Verstimmung zwischen ihnen gekommen. In der geplanten Schrift sollte George den Holländern Deutschland, Verwey den Deutschen Holland erklären. Verwey betonte die »Herrlichkeit der Wirklichkeit«, die in Rembrandt und der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts ihren vollendeten Ausdruck gefunden habe; George setzte dem die Kraft der künstlerischen Persönlichkeit entgegen, die in der Lage sei, sich ihre Wirklichkeiten selber zu schaffen. 45
    Der Streit entfachte sich nicht zufällig an Rembrandt. Der große Maler sei nur von ungefähr, qua Geburt Holländer gewesen, seinem Charakter und seiner Bestimmung nach aber müsse er als »der deutscheste aller deutschen Künstler« gelten, in Rembrandt trete der rigorose Individualismus der Deutschen am stärksten hervor. So war es in Julius Langbehns 1890 erschienenem Kultbuch Rembrandt als Erzieher zu lesen, einer ebenso wirren wie wirkungsvollen Schrift, die schnell »von allen romantischen Duselköpfen als neues Evangelium der Deutschen gepriesen« wurde. 46 Langbehn polemisierte gegen alles, was den Nationalkonservativen und Völkischen Angst machte: gegen die Anonymität der Großstädte, gegen den Siegeslauf der Naturwissenschaften, gegen Intellektualismus und Pluralismus, gegen die Universitäten, gegen den Geist der Aufklärung, in späteren Auflagen vehement auch gegen die Juden. »Uns Deutschen, die wir einmal Barbaren sind und bleiben«, seien die meisten Errungenschaften der modernen Zivilisation zum Glück fremd. Und es bestehe Hoffnung, »die Herrschaft der Mittelmäßigkeiten in Deutschland« zu brechen, denn nach wie vor finde sich genügend Substanz in diesem Land, besonders unter »der unverdorbenen unverbildeten unbefangenen deutschen Jugend«. 47 Kein Autor dürfte die emotionale Befindlichkeit großer Teile der Nation in den neunziger Jahren besser wiedergegeben haben als der Rembrandtdeutsche Julius Langbehn. Mit seinen schaurigen Beschwörungen einer nationalen Wiedergeburt
aus dem Geist einer permanent sich verjüngenden deutschen Jugend war er unter den direkten Vorläufern Georges sicherlich der erfolgreichste.
    Nach Verweys Besuch in München Anfang April 1902 hatte die Intensität der Beziehung nachgelassen, im Jahr darauf war es zu keinem einzigen Treffen gekommen. Als George zwei Monate nach Kronbergers Tod im Juni 1904 wieder Gast

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