Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
von Verwey war, bot ihre unterschiedliche Auffassung des Begriffs »Wirklichkeit« erneut Anlass zu langen Gesprächen. In den höchsten Regionen der Kunst spielten solche Unterscheidungen doch gar keine Rolle, hatte George im März versöhnlich geschrieben, »und es bedeutet etwa dasselbe wenn wir sagen: traumbilder die bezaubern wie wirklichkeiten oder wirklichkeiten die bezaubern wie traumbilder«. 48 Aber Verwey wollte einer solchen Vermischung der Sphären nicht zustimmen und wehrte sich, als George jetzt die Grenzen zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, zwischen Kunst und Wirklichkeit aufzuheben begann.
Mit seiner Behauptung, George habe die Konzeption zu Maximin im Kopf gehabt, bevor er dem Jungen begegnet war, rührte Verwey an den Nerv des Ganzen. George, schrieb er in seinen Erinnerungen, sei von der Vergangenheit immer stärker bestimmt gewesen als von der Gegenwart, von Ideen stärker als von Bildern, sein ganzes Schaffen sei weniger empirisch als kulturgeschichtlich determiniert. »Auch die Maximin-Erfahrung war im Kern eine kulturhistorische Erfahrung. Er aber wollte sie als Wirklichkeit verstanden wissen.« 49 Die späteren Propheten des Kreises, allen voran Gundolf und Wolters, sagten im Grunde nichts anderes, wenn sie das Maximin-Erlebnis in zahlreichen Varianten als Erfüllung des Georgeschen Lebenstraumes priesen und entsprechende neue Legenden hinzufügten. 50 Die Stichworte dafür lieferte George selber, der immer wieder betonte, Maximin kraft seines Willens herbeigezwungen zu haben: »Riss ich nicht ins enge leben / Durch die stärke meiner liebe / Einen stern aus seiner bahn?« 51 Über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit wäre aus Georges Sicht wohl eine Einigung mit Verwey zu erzielen gewesen. »Der
höchste Triumph der Einbildung ist erreicht«, hatte dieser als Kern seiner Poetologie schon früh formuliert, »wenn sie die Außenwelt als ihre Schöpfung auffasst.« 52 War das nicht auch Georges Ansicht? Er vergaß jedoch, was ein Dichter nach Verweys Dafürhalten niemals vergessen durfte: dass auch die großartigste Schöpfung immer ein Werk der Einbildung blieb. Mit Maximin aber »löst sich die Differenz zwischen Autor-Ich und poetischem Ich auf; das Ich der Maximin-Gedichte ist in einem sehr konkreten Sinne das Ich Georges, denn die Wahrheit des Sehers lässt sich nicht in einem ästhetischen Fiktionsspiel, sondern allein in der persönlichen Gotteserfahrung begründen«. 53 Bereits die ersten Gedichte auf Maximin, die George ihm im Sommer 1904 vorlas, erschienen Verwey aufgrund dieser in seinen Augen unzulässigen Gleichsetzung »schwächer, als ich es von ihm gewohnt war«. 54 Was der holländische Freund vor allem vermisste, war Leidenschaft. George habe sein Liebesverlangen so lange verdrängt – »vergeistigt«, hieß es in Verweys Besprechung des Siebenten Rings -, dass er sich am Ende »den Gott nicht anders als unter geliebten Zügen« vorzustellen vermochte. Während George in vielen anderen Gedichten des Bandes auf großartige Weise »zarteste Rührungen« auszudrücken wisse, spreche in den Maximin-Gedichten »nicht der Liebhaber, sondern der an die Liebe Glaubende«. 55
Obwohl Verwey seine Vorbehalte nur zaghaft andeutete, ließ sich die zunehmende Entfremdung nicht mehr verbergen. Je weiter sie sich voneinander entfernten, desto häufiger führten beide zur Begründung ihrer Divergenzen allerdings nationale Klischees ins Feld. Bei ihrer letzten Begegnung vor dem Krieg, im Juni 1910, zehn Jahre, nachdem das Thema Deutschland – Holland zum ersten Mal kontrovers zwischen ihnen diskutiert worden war, suchte Verwey einer Eskalation dadurch aus dem Weg zu gehen, dass er den Maximin-Mythos als eine rein deutsche Angelegenheit bezeichnete. Daraufhin musste er sich von George den Vorwurf gefallen lassen, dass er in seinem kleinen Holland die Zeichen der Zeit nicht erkenne.
Mit seiner Kritik, keinem Dichter sei erlaubt, sich als Sinnbild seiner selbst aufzustellen, nahm Verwey in der Entstehungsphase des
Siebenten Rings vorweg, was George nach Publikation des Bandes in sehr viel schrofferer Form von vielen Seiten entgegenschlug. »Wenn der Stefan George’sche Kreis ohnedies alle Merkmale der Sekten -Bildung an sich trug«, schrieb Max Weber im Juni 1910, drei Monate vor seiner Bekanntschaft mit dem Dichter, »so ist die Art und Weise des Maximin-Cultus schlechthin absurd, weil sich von dieser Erlöser-Inkarnation mit aller Gewalt nichts aussagen läßt, was seine
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