Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
verdorben.« 6 Zwischen seiner Dichtung und den Idealen der Jugendbewegung gab es jedoch erheblich mehr Überschneidungen, als George zugeben mochte. Nirgendwo fand er um 1910 so viele Bewunderer wie gerade hier.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Stern des Bundes tatsächlich, wie in der Vorrede später behauptet wurde, »für die freunde des engern bezirks« gedacht war. Am 11. und 12. Oktober 1913 hatten sich die wichtigsten Verbände der Jugendbewegung,
die rund 27 500 Mitglieder repräsentierten, auf dem Hohen Meißner bei Kassel versammelt, um sich auf ein einheitliches Programm zu einigen. George las in diesen Tagen in Berlin Korrektur, und sechs Wochen später erschienen zehn Vorausexemplare des Sterns . Allein aufgrund der zeitlichen Koinzidenz könnte man annehmen, dass er die Jugend auf dem Hohen Meißner durchaus als potentielle Leserschaft sah. Überdies hätten viele der dort Versammelten die dürre Meißnerformel gern gegen Verse aus dem Stern des Bundes eingetauscht. »Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant!« 7 Mit solchen, das bündische Lebensgefühl dichterisch überhöhenden Zeilen schuf sich George jedenfalls ein ihm über Jahrzehnte dankbares und treues Publikum.
Andererseits misstraute er allen Formen der Vergemeinschaftung, als deren oberstes Ziel das Gruppenerlebnis galt. Auch hielt er die Idee »einer sich selbst erziehenden Gemeinschaft« (Wyneken) für groben Unfug. Erziehung war in seinen Augen immer autoritär und nur möglich von Person zu Person. Nicht zuletzt sprach George den meisten Reformpädagogen die Befähigung zur Erziehung ab. Er warf ihnen vor, in fahrlässiger Weise mit den ihnen Anvertrauten zu experimentieren. Einige hatte er überdies im Verdacht, dass sie »das erotische Ideal der Jugenderziehung … zu persönlichen Reizungen mißbrauchten«, vulgo : sich an den Jungen vergingen. 8
Hans Blüher, der einflussreichste Publizist und erste Historiograph der Jugendbewegung, hatte schon früh die Ansicht vertreten, dass überall, wo Männer eine Gemeinschaft bilden, die Liebe des Mannes zum eigenen Geschlecht die eigentliche Ursache des Zusammenschlusses sei. In seinen Schriften und Reden stützte sich Blüher vor allem auf die bahnbrechenden Untersuchungen, die der Völkerkundler Heinrich Schurtz 1902 unter dem Titel Altersklassen und Männerbünde veröffentlicht hatte. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Geschlechtstrieb und Gesellungstrieb, die sich bei vielen Naturvölkern in der prinzipiellen Trennung von Familienhäusern und Männerhäusern wiederfindet, und die besondere Bedeutung der außerfamiliären Gruppenbildung für die Entwicklung des öffentlichen
Lebens faszinierten Blüher. Er übertrug die Beobachtungen des Ethnologen auf die bürgerliche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts und radikalisierte sie in seinem Sinn. Sein 1917/19 in zwei Bänden veröffentlichtes Hauptwerk Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft wurde zum Kultbuch der deutschen Männerbundideologie.
Zum Männerbund berufen war nach Blüher nur, wer sich liebend dem eigenen Geschlecht zuwendet, der »Typus inversus«. Obwohl Blüher nicht müde wurde, den spezifisch sexuellen Gehalt mannmännlicher Erotik zu betonen, hielt er den Begriff Homosexualität aufgrund seiner psychiatrischen Konnotationen für verhängnisvoll und suchte ihn aus dem deutschen Wortschatz zu verbannen. Die Natur erlaube zwar verschiedenartige Zwischenformen, aber nur der »Vollinvertierte«, der zu seiner »Inversion« stehe, könne ein echter »Männerheld« werden, einer, der die Blicke aller auf sich ziehe. »Wenn man verstehen will, warum kämpfende Truppen sich begeistert opfern, so darf man jenen erotischen Zug nicht vergessen, der vom Bilde des Helden ausgeht.« 9 So wie der Held im Krieg voranschreite, so habe er im Frieden die Erziehung der Jugend zu übernehmen. Nur der »Männerheld« könne die Jugend um sich scharen und einen Männerbund stiften. Der Männerbund aber sei die Keimzelle des Staates.
Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft ist ein wirres Buch, ähnlich wirr wie ein Vierteljahrhundert zuvor Langbehns Rembrandt als Erzieher. Während Blühers Thesen in den Reihen der bündischen Jugend auf heftigen Widerspruch stießen, ist ihr Einfluss auf das politische Denken der zwanziger Jahre, insbesondere auf die Hitler-Bewegung, nicht hoch genug zu veranschlagen. Hitler selbst, so Blüher im Vorwort zur Neuausgabe seines Werkes 1949, sei
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