Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
gemeinsame Perversität eine Rolle in dieser, beinahe pathologischen Erscheinung spielt, lasse ich dahin gestellt; ich halte es aber für falsch, derartige Erscheinungen immer nur mit dem Sexuellen erklären zu wollen. 95
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Im Einleitungsessay zum ersten Jahrbuch , dem wichtigsten Text der Reihe überhaupt, hatte Karl Wolfskehl 1910 Georges Wunsch nach einer Geschichte der eigenen Bewegung aufgegriffen und ein paar Stichworte zusammengestellt. In diesem Zusammenhang war erstmals von einem »geheimen Deutschland« die Rede: »Was heute unter dem wüsten oberflächenschorf noch halb im traume sich zu regen beginnt, das geheime Deutschland, das einzig lebendige in dieser zeit, das ist hier, nur hier zu wort gekommen.« Dieses geheime Deutschland sei einzig und allein durch das dichterische Wort über die Zeiten gerettet worden; in der Dichtung eines Volkes sei dessen »ganzes schicksal eingeschlossen«. Es gebe begründete Hoffnung, so endete Wolfskehls Aufsatz, »dass eine bewegung aus der tiefe, wenn in Europa dergleichen noch möglich ist, nur von Deutschland ausgehen kann, dem geheimen Deutschland, für das jedes unserer worte gesprochen ist, aus dem jeder unserer verse sein leben und seinen rhythmus zieht, dem unablässig zu dienen glück, not und heiligung unseres lebens bedeutet«. 96
Wie diffus solche Umschreibungen auch sein mochten: Dieses Deutschland galt es jetzt über den Krieg zu retten.
In der ersten Julihälfte 1914 war George wie jedes Jahr in die Schweiz gefahren. Mitte des Monats bezog er ein kleines Zimmer in einem Chalet oberhalb von Saanenmöser im Berner Oberland, das Landmanns für den Sommer gemietet hatten. Wenige Tage später traf Friedrich Wolters mit einem jungen Freund, Balduin von Waldhausen, ein. Die beiden suchten sich Quartier im Dorf; Waldhausen kam jeden Vormittag zur »Unterweisung«, Wolters fand sich meist am Nachmittag und Abend ein, auch um George wegen der Blätter -Geschichte zu befragen. Ursprünglich hatte Georges Schwester dazustoßen wollen, aber da es ununterbrochen regnete, 97 ließ ihr George am 29. Juli durch Gundolf absagen. Es war ein Mittwoch. Am Tag zuvor hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt. Am Donnerstag folgte die russische Generalmobilmachung. Am Wochenende befand sich Europa im Krieg.
Waldhausen reiste sofort ab, ein paar Tage später folgte Wolters, Julius Landmann begleitete ihn bis Basel. George blieb zusammen mit Edith Landmann und den drei Kindern. In der Woche vom 10. August fuhr er nach Bern, um sich auf dem deutschen Konsulat nach den Auswirkungen der Kriegserklärung für ihn zu erkundigen. Seit der Heeresreform von 1888 wurden alle männlichen Deutschen zwischen dem 17. und 45. Lebensjahr, die nicht dem stehenden Heer, der Reserve oder der Landwehr angehörten, im Kriegsfall im Landsturm organisiert. George hatte soeben sein 46. Lebensjahr vollendet und unterstand keiner militärischen Kontrolle mehr. Seine Papiere reichten für einen Grenzübertritt aus. Wegen der erheblichen Einschränkungen im Zugverkehr empfahl man ihm auf dem Konsulat, vorerst nicht zu reisen, und so fuhr George ins Berner Oberland zurück, wo er seine Ferien bis Ende August fortsetzte. Gundolf, der keinen Moment daran gezweifelt hatte, dass George in der Stunde der nationalen Not stehenden Fußes nach Hause eilen würde, war sichtlich irritiert. »Nichts wird so heiss gegessen als es gekocht wird«, antwortete ihm George am 13. August. »Ich sehe keinen grund vorläufig in eile die schweiz zu verlassen.« 98
Die Gelassenheit, die George im August 1914 an den Tag legte,
entsprach dem demonstrativen Gleichmut, mit dem er vier Jahre später die Niederlage kommentierte. Dieser Krieg, das machte er immer aufs Neue deutlich, ging ihn nichts an. Als dreieinhalb Monate nach Kriegsausbruch eine neue Folge der Blätter für die Kunst erschien, suchte man nach einer Stellungnahme zum Krieg vergeblich. Der Band sei bereits »im vorsommer zusammengestellt« worden, hieß es in den »Nachrichten«, und es habe keinen Grund gegeben, »das erscheinen hinauszuschieben da unsere haltung vor und in den ereignissen des jahres sich gleicht«. Das Vorwort gab einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Blätter -Dichtung seit ihren Anfängen; heute habe die Zeitschrift »erst recht die aufgabe zu zeigen dass in zeiten eines kräftigen gesamtlebens die Dichtung … innerste seele des volkes ist«.
Fünf Jahre später, im Dezember 1919 stand am Schluss der Einleitung zur
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