Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Augen erhellt werden, denn ein vom Strahl auch nur Gestreifter sterbe nicht sinnlos«. Nach solcher Art Erleuchtung war Gothein verständlicherweise nicht zumute. Sechs Wochen nach Erhalt des Gedichts
raffte er sich auf, George »noch einmal nach dem rechten Weg zu fragen. Oder soll ich aus der Überschrift schliessen, dass mir von nun an Ihre Türe verschlossen ist?« 6
Im Juni 1915 wurde Gothein in Galizien von einer Kugel am Kopf getroffen. Nach Lazarettaufenthalt, Erholungsurlaub und vorübergehender Verwendung an der Heimatfront vom Dienst befreit, begann er 1916 zu studieren. Der Universität konnte Gothein freilich genauso wenig abgewinnen wie dem Frontalltag. Er verfiel in Schwermut und erging sich in langen selbstquälerischen Betrachtungen seiner Nichtswürdigkeit. George, der jede Form der Selbstanalyse für abwegig hielt, hüllte sich in Schweigen. Einmal, im Dezember 1916, sahen sie sich. Gothein fuhr von Heidelberg nach Mainz, wo George bei Robert Boehringer logierte. Die Atmosphäre war frostig. Gothein studierte damals Philosophie. »Philosophie macht hässlich«, sagte ihm George auf den Kopf zu. Ein paar Tage später fragte er Gundolf, ob er auch schon bemerkt habe, dass Percy »ein andres gesicht aufweist – leider ziemlich unerfreulich«. 7
Zumal im direkten Vergleich mit Erich Boehringer, Roberts jüngerem Bruder, schnitt Gothein schlecht ab. Dem blendend aussehenden Artillerieoffizier setzte George bei Kriegsende ein schönes Denkmal: »Einem jungen Führer im Ersten Weltkrieg«. Im Dezember 1916 war Boehringer direkt von der Front zu kurzem Besuch nach Mainz gekommen. Boehringer sei »von Kopf bis Fuß ein Held« gewesen, schrieb Gothein in seinen Erinnerungen, und aller Augen hätten mit Wohlgefallen auf ihm geruht:
Wenn der Schöne schlank und biegsam durch die Straßen schritt in seiner hübsch sitzenden Uniform mit dem wippenden metallisch anschlagenden Schleppsäbel an der Seite, öffnete sich ganz gewiss irgendein Fenster hinterdrein, aus dem ein Mädchen ihm nachblickte … alle beeilten sich noch geschwind, von dem Schönen, ehe er ganz vorbei war, einen Blick zu erhaschen. Diese jungen schneidigen Offiziere spielten im Krieg eine nicht geringe Rolle, und der Führer der Jugend [d.i. George] sagte wohl, mehrmals bedeutsam mit dem Kopfe nickend, wie es seine Art war, wenn er etwas nachdrücklich betonte: »Wenn wir nur schon mehr von solchen Soldaten besessen hätten, dann wäre uns dieser Krieg nicht verloren gegangen; denn die sind nicht umzubringen.«
Als sich Gothein im Sommer 1917 in Berlin zum ersten Mal in einen Jungen verliebte – es war der Sohn des Ministerialdirektors, späteren Außenministers und Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons -, hob er die Freundschaft sofort auf die pädagogische Ebene. »Ich kenne das Gesetz. Ich habe empfangen, gelange aber nicht eher in den Besitz als bis ich weitergegeben habe aus der angeborenen und erworbenen Fülle.« 8 Es war ein klares Junktim. Nur wenn der junge Simons sich seiner Führung anvertraue und ihn auf diese Weise aus dem Dilemma seiner unerfüllten Sehnsüchte befreie, könne er, Gothein, dem Gesetz Georges genügen.
In seiner Autobiographie stilisierte sich Gothein in diesen Jahren zu einem unentschiedenen, seelisch zerrütteten Studenten der Philosophie. Während er lustlos von einer Universität zur anderen gezogen sei, hätten Gleichaltrige wie Erich Boehringer als Truppenführer längst Verantwortung getragen. »Was war ich für eine Trauergestalt neben diesem Schönen«, seufzte Gothein in seinen Erinnerungen. Seit Augustinus folgt die Bekenntnisliteratur stets dem gleichen Schema: Schwächen und Verfehlungen der Vergangenheit grell zu überzeichnen, um den Augenblick der Rettung als ein umso größeres Wunder erstrahlen zu lassen. Indem er seine gesamte bisherige Entwicklung als eine Anhäufung von Fehlschlägen charakterisierte, steuerte Gothein im Bericht seiner Erweckung durch George unweigerlich auf jenen Moment zu, an dem sich sein Schicksal entscheiden musste. Im Januar 1919 war es so weit. Gothein, der inzwischen Romanistik in München studierte, bekam die lang ersehnte Chance, bei George doch noch in die erste Reihe aufzurücken.
2
Es war Gotheins innigster Wunsch gewesen, einmal für längere Zeit mit dem Dichter »in derselben Luft zu leben«. Da zu Jahresbeginn in München »keiner seiner Freunde zugegen war außer mir, so nahm er in Ermangelung eines Bessern mit mir vorlieb und erlaubte, dass
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