Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Terminologie. »Wortgemüse« nannte George das. 85 Vieles diente der Historisierung der eigenen Sendung. So brachte der erste Band als Eröffnungsstück einen Abriss der Blätter -Bewegung aus der Feder von Wolfskehl, danach beschrieb Gundolf »Das Bild Georges«, wie es sich aus jüngsten Veröffentlichungen über den Dichter zusammensetzte. Die Mitte bildete der mit Abstand längste Beitrag, Hildebrandts Wilamowitz-Aufsatz. Außerdem bot der Band eine Betrachtung von Vallentin »Zur Kritik des Fortschritts«, einen Beitrag über »Das Erbe des Rokoko« und am Ende »Richtlinien« von Wolters. Die Bände zwei und drei waren nach dem gleichen Muster konzipiert. Programmatische Artikel von Gudolf und Wolters am Anfang und Ende, in der Mitte lange Stücke von Vallentin »Zur Kritik von Presse und Theater« oder über »Napoleon und die geistige Bewegung«, von Kurt Hildebrandt über »Romantisch und Dionysisch« (in zwei Teilen) oder von Ernst Gundolf über »Die Philosophie Henri Bergsons«. Unter dem Titel »Weltanschauung des Jahrbuchs« war dem zweiten Band eine Zitatensammlung vorangestellt, die beweisen sollte, dass die wichtigsten Zeugen des 19. Jahrhunderts antimodernistisch eingestellt waren: Goethe, Hölderlin, Baudelaire, Alexander Herzen (!), Burckhardt und Nietzsche.
Das Echo war, zumal angesichts der geringen Auflage von fünfhundert Exemplaren, von denen kaum mehr als die Hälfte abgesetzt werden konnte, ein überwältigendes. Viele glaubten den »Jahrbuch-Geist« als den Geist Georges identifizieren zu können. »Es begab sich nämlich, dass die Fehler Georges sich objektivierten und Menschen wurden«, spottete das Expressionistenblatt Der Sturm . »Als solche aber gaben sie Jahrbücher heraus.« 86 Zum ersten Mal schien der »Kreis« als solcher konkret fassbar zu werden. Nur wenige vermochten zu differenzieren. War diese mäßige Polemik wirklich von
George gewollt, fragte sich etwa der Schriftsteller Carl Einstein. Was hatte dieses »konglomerat aus begriffsüberreizung unwissen und kindischer wichtigtuerei«, dieser »bedenkliche dilettantismus« mit dem verpflichtenden Ethos seiner Dichtung zu tun? »Mit welchem recht diese herren George in anspruch nehmen ist mir aus ihren leistungen unerfindlich.« 87
Obwohl die Knabenliebe weder in Hildebrandts Wilamowitz-Aufsatz noch von den anderen Autoren des im März 1910 erschienenen ersten Jahrbuch -Bandes thematisiert wurde, war es dieser Punkt, auf den sich gleich mehrere Kritiker stürzten. Das »offene Geheimnis« drohte in dem Moment zum Skandal zu werden, wo es den schützenden Bereich der Dichtung verließ, um als ideologische Münze gehandelt zu werden. »Die religiösen Anspielungen in der Neunten [Folge] bes[onders] das griechische Wunder seien höchst gefährliche Unterfangen«, warnte der Münchner Germanist Friedrich von der Leyen. Er hatte sich in einer Vorlesung kritisch über »diese Angelegenheit als centrale Blätterangelegenheit« ausgelassen, und der mit ihm befreundete Karl Wolfskehl, mit dem er soeben im Insel-Verlag einen Band Älteste deutsche Dichtungen herausgegeben hatte, stellte ihn daraufhin zur Rede. Für ihn, so führte von der Leyen in einem dreistündigen Gespräch aus, »sei diese Vergottung des Leibs, nämlich des Leibs des schönen Knaben auch um deswillen gefährlich weil damit das Mysterium der übergeschlechtigen Liebe aus seiner bisherigen Verborgenheit ans Tageslicht gerückt sei zumal das Jahrbuch ganz auf diesem Religionssatz dogmatisch beruhe«. Er habe nur deshalb öffentlich Stellung bezogen, weil »die ganze Welt von diesen Dingen aufs gehässigste rede [und] er fortwährend in jeder Stadt in die er kommt … über dies Thema das tollste vernehme«. Wolfskehl seinerseits machte von der Leyen den Vorwurf, »dass er mit seinen Worten eine Diskussion eröffne die zu beginnen keine Gehässigkeit seit 20 Jahren gewagt habe und vor allem dass er das religiöse Problem … aufs willkürlichste verenge«. 88
George empfahl wie immer, nicht zu viel Aufhebens von solchen Geschichten zu machen. Aber Gundolf wollte die Gelegenheit nutzen,
»zehn bis zwölf ganz einfach feststellende Sätze« zu formulieren – »ganz fürs Niveau der Bürgerlichkeit und doch ganz unmissverständlich für die Wissenden«. 89 Die Unterscheidung zwischen Wissenden und Unwissenden, zwischen denen, die dazugehörten, und denen, die in ihrer »Bürgerlichkeit« befangen blieben, entsprach dem im Georgeschen Werk strukturell angelegten
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