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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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Demontage, es war ein auf Freiwilligkeit gründender Akt der Unterwerfung.
    Hingabe war das Schlüsselwort, und Gothein ließ keinen Zweifel, dass dies nicht bloß metaphorisch gemeint war. Noch in der Erinnerung überwältigte ihn die Vorstellung, George einmal so nah gestanden zu haben. An manchen Nachmittagen sei es bereits frühlingshaft warm gewesen; erst wenn die Sonne unterging, hätten sie Fenster und Läden geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Das seien die halkyonischen Tage, habe George gesagt, die strahlend blauen Tage, in denen der Eisvogel brüte – die Tage der Stille und Einkehr. Den erotischen Zauber, der von ihnen ausging, fasste Gothein im Rückblick in der stummen Frage zusammen, ob einem jungen Mann in jenen Tagen ein größeres Glück beschieden sein konnte, als von einem solchen Meister an die Hand genommen zu werden.
    Die eigentliche Prüfung war das Lesen. George wollte hören, wie Percy Gedichte las, um beurteilen zu können, auf welcher Stufe er stand. Percy durfte wählen und entschied sich für das dem Novizen angemessene zweite Zehnt aus dem Zweiten Buch des Sterns , das beginnt: »Wer seines reichtums unwert …« Im Moment, wo er in Georges Worten aussprechen sollte, was ihn all die Jahre bewegt hatte, war Gothein »innerlich so erregt, dass meine Stimme ganz tonlos wurde, weil mir das Blut so in die Kehle stieg, als ob es den Atem mir abschnüren wollte«. Außer Lesen wurde auch Schreiben geübt. »Das ganze kleine und große Alphabet wurde der Reihe nach durchgenommen und jeder Buchstabe, wie ich ihn bisher gemacht hatte, auf seine Mängel, Verzwicktheiten und Unschönheiten beurteilt und durch bessere und einfachere Formen ersetzt.« George zeigte dem Kind, das längst keines mehr war, wie man einen Brief übersichtlich adressiert und wo man am besten die Briefmarke aufklebt.
    Draußen tobte derweil die Revolution. Kurt Eisner, der Führer der bayerischen Linkssozialisten, hatte am 7. November 1918 Bayern kurz entschlossen zum Freistaat erklärt und sich selbst an die Spitze der Regierung gestellt. Nach der verheerenden Niederlage der USPD
bei den Landtagswahlen im Januar 1919, aus denen die Bayerische Volkspartei als klare Siegerin hervorgegangen war, schien Eisner nicht gewillt, von seinem Amt zurückzutreten. Als linker jüdischer Literat war er längst zur bevorzugten Zielscheibe der Nationalen geworden. Am 21. Februar wurde er auf dem Weg zum Landtag ermordet. Am Mittag verhängte die Regierung den Belagerungszustand, die Furcht vor einer Radikalisierung der Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild griff um sich.
    George, der sich später an gespenstisch leere Straßen erinnerte, durch die hin und wieder ein Trupp Soldaten gekarrt wurde, hatte mit einer Revolution gerechnet, sie in gewissem Sinn sogar herbeigewünscht. Er könne sich nicht vorstellen, meinte er im Sommer 1918, »dass die Soldaten, die ihre Haut zu Markte getragen haben, zurückkommen, um die Knechte derer zu sein, die inzwischen Zeit hatten, Geld zu machen«. Bliebe das reinigende Gewitter einer Revolution aus, würden die Menschen auf Dauer »versklavt«; da lobe er sich fast schon den Bolschewismus, in Russland herrsche wenigstens Anarchie. Durch Revolutionen würden die notwendigen Änderungen nun einmal schneller erreicht. Was die Deutschen angehe, bleibe er allerdings skeptisch, denn sie hätten bisher noch jeden Umsturz verpasst. »Ein Volk, das zu politischer Reife kommen will, muss erst einmal seinen König köpfen.« 10
    Als die Revolution dann kam, war George nicht mehr ganz so sicher, ob er sie tatsächlich wünschen sollte. Vor allem seine eigene Rolle erschien ihm plötzlich unsicherer denn je. »Für irgend eine betätigung halte ich die stunde für noch nicht gekommen«, schrieb er am 11. November aus Berlin an Wolfskehl. 11 Es war der Tag des Waffenstillstands, an dem im Reichstag erstmals der Soldatenrat zusammentrat. Vier Wochen später fuhr George von Berlin direkt nach München. Es werde sich wohl auch diesmal wieder die Erfahrung bestätigen, meinte er Anfang Februar – schon deutlich zurückhaltender -, »dass bei noch so grossen weltwenden die ›kleinen leute‹ immer in der überzahl bleiben«. 12 In der bayerischen Hauptstadt sei es zum Glück »noch immer erträglich«, hieß es vier Wochen später. »Wenn
man in der stadt an gefährlichen stellen vorbeiwill wird man höflich gebeten aus dem weg zu gehen weils ›jezt glei’ a’fangt z’bliz’n‹.« 13 Die Revolution war

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