Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
Vom Netzwerk:
Literaturgeschichte der Kopf der völkischen Germanistik, Adolf Bartels. Es handele sich um »eine Art esoterischer Haschischoder Eindämmerungspoesie«, die zu einer »Perhorreszierung des Lebens« führe. Obwohl ihm an George »immerhin deutsche Neigungen« auffielen, machte Bartels aus seinem Abscheu vor dieser Kunst keinen Hehl: »Im ganzen komme ich über ihre Unnatur nicht hinweg.« Vor solcher Literatur zu warnen war Bartels jedes Mittel recht, auch das der Diffamierung, weil George doch »eigentlich Abeles heißen und, wie Dr. Eugen Holzner in der ›Frankfurter Zeitung‹ 1902 behauptete, jüdischer Herkunft sein soll – was ich aber beides nicht glaube«. Abschließend stellte der stramme Autor mit Genugtuung fest, dass es »schon während des Weltkriegs sehr still von Stephan George geworden« sei. 47
    In der öffentlichen Wahrnehmung der zwanziger Jahre war George ein Vorkriegsdichter, der den Höhepunkt seines Schaffens hinter
sich hatte. Man darf sich durch die zahlreichen zwischen 1915 und 1922 erschienenen Neuauflagen nicht täuschen lassen. Es handelte sich fast ausschließlich um Nachdrucke der frühen Bände bis zum Teppich des Lebens . In den Auflagenzahlen 48 spiegelte sich vor allem die Vorliebe des Publikums für einen »Klassiker« wider. George war zum Klassiker geworden, gefeiert für literarische Neuerungen, die ein Vierteljahrhundert zurücklagen. Während an den Universitäten die ersten Dissertationen entstanden, 49 war die Zahl der Zeitungsund Zeitschriftenartikel über ihn stark rückläufig. Obwohl er als einer der frühen Wegbereiter der neuen deutschen Dichtung jetzt fast überall die Anerkennung fand, die ihm vor dem Krieg versagt geblieben war, musste George fürchten, den Anschluss zu verlieren.
    Im Unterschied zu den meisten Schriftstellern, Künstlern und Hochschullehrern, die 1918 hätten revidieren müssen, was ihnen im Taumel von 1914 aus der Feder geflossen war – Koryphäen wie Thomas Mann und Max Weber eingeschlossen -, musste George nichts zurücknehmen. Sein Kriegsgedicht sei »das Einzige, was aus der unabsehbaren Masse deutscher Kriegsgedichte überleben dürfte«, hieß es in einer Besprechung der Neuen Schweizer Rundschau , und im Nachhinein könne man sich nur wundern, dass es überhaupt im Druck habe erscheinen dürfen. 50 Durch den Kriegsausgang war Georges Haltung glänzend bestätigt worden. Aber wen interessierte das?
    Die gesamte Vorkriegskultur drohte im Nichtgeschichtlichen zu versinken. »Im Krieg drehen sich die wirtschaftlichen und ideologischen Werte schneller um ihre Achsen, und dadurch wird die Gegenwart schneller zur Vergangenheit, also ist das Maß der in der Geschichte vorbeiziehenden Zeit nicht der Chronometer, sondern gerade diese wechselnden Werte.« 51 Die durch den Krieg beschleunigte Wahrnehmung bedeutete einen radikalen Bruch in der Zeit-Erfahrung, einen qualitativen Zeitsprung, der nach dem Krieg alles, was vor 1914 lag, fremd erscheinen ließ. 52 »Was vor dem Kriege war, scheint durch eine Kluft von Jahren von der Gegenwart geschieden und den Heutigen nichts mehr anzugehen«, fasste der Heidelberger
Neurologe Willy Hellpach seine Untersuchungsergebnisse zur Kriegsneurasthenie 1919 zusammen. In der subjektiven Wahrnehmung der Zeitgenossen schien der Krieg sehr viel länger gedauert zu haben als vier Jahre. Der Freiburger Privatdozent Martin Heidegger erläuterte seinen Studenten im ersten Nachkriegssommer den Unterschied zwischen messbarer Zeit und Erlebniszeit an ihrer eigenen Biographie in drei Worten: »ein Jahr im Feld, ein Semester: kein objektiver Zeitbegriff«.
    Der Generationenwechsel, der durch den Krieg zusätzliche Dynamik erhielt, brachte neue Themen und neue Namen. Alle, die jetzt nach vorn drängten, die Expressionisten, die Aktivisten der Frontkämpfergeneration, der Jahrgang 1902 (so der Titel des 1928 erschienenen Buches von Ernst Glaeser, das mit der Vätergeneration abrechnete), verstanden die Katastrophe als Anfang eines Neuen. Ihr Denken kristallisierte sich um Begriffe, von denen keiner mehr in die alte Welt hinüberreichte. Der Untergang des Abendlandes (1918), Geist der Utopie (1918) oder auch Der Kampf als inneres Erlebnis (1922), Volk ohne Raum (1926), Sein und Zeit (1927), Im Westen nichts Neues (1929) – so lauteten die neuen Stichworte, an die sich jetzt die Debatten knüpften. Georges Vision des »schönen Lebens« wirkte in diesem kalten, unerbittlichen Umfeld wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen.

Weitere Kostenlose Bücher