Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
möglichen oder tatsächlichen Wirkung auf die politischen und sozialen Verhältnisse her beurteilen« zu wollen. 59 Aus Georges eigener Sicht war jede Form des Publikumserfolgs eine zweischneidige Angelegenheit, weil sie die Grenzen des Künstlertums zu verwischen drohte und die von ihm beanspruchte Ausnahmestellung gefährden musste.
Zweifellos hat George 1918/19 die Öffentlichkeit gesucht, die Grenzen der eigenen Wirksamkeit wurden ihm jedoch schnell deutlich. Zehn Jahre später ließ er Wolters schreiben, die wachsende Anerkennung sei nichts anderes gewesen als Ausdruck eines wachsenden Missverständnisses zwischen Dichter und Öffentlichkeit. Die zahlreichen Neuauflagen hätten »mehr eine Breitenwirkung Georges
in die gebildeten Schichten als eine Tiefenwirkung in die Seelen« erzeugt. 60 Am Ende seien sich der Dichter und sein Publikum in etwa wieder so fremd gewesen wie in den frühen neunziger Jahren.
George wusste, dass er seinen Zenit überschritten hatte, und trat den Rückzug ins Private an. Es wäre allerdings falsch, diesen Rückzug als das Ergebnis gescheiterter Bemühungen um eine breitere Öffentlichkeit oder als Folge einer veränderten Einstellung zum Publikum anzusehen. Der Rückzug lag in der Konsequenz seiner Entwicklung vom Dichter zum Führer und hing aufs engste mit dem Nachlassen seiner Produktivität zusammen. »Wenn ich keine Gedichte machte, hätte ich immer noch was andres«, sagte George im Frühjahr 1920 zu Edith Landmann, »und die Gedichte sind Mittel zu diesem andern.« 61 Die Wahrheit war, dass er zu diesem Zeitpunkt tatsächlich kaum noch dichtete. Schon während des Krieges hatte er geklagt, »dass ihm seit seiner Krankheit nichts mehr so recht gelungen ist«. 62 Eine Zeitlang suchte er sich das Versiegen der dichterischen Kraft schönzureden: Er wolle sich nicht wiederholen, es sei alles gesagt, dichten sei jetzt nicht mehr so wichtig. 63 Erst 1927 mit dem Erscheinen des ersten Bandes der Gesamtausgabe wurde er den Druck los. Aber George hatte ja »noch was andres«. Dieses andere, das Leben mit den Freunden, genannt der Staat, rückte nun definitiv in den Mittelpunkt seines Sinnens und Trachtens. Bevor sich George jedoch neuen Jüngeren zuwenden konnte, musste im Innern dieses Staates die Ordnung wiederhergestellt werden.
3 Das große Aufräumen
Als der Freundeskreis zu Pfingsten 1919 in Heidelberg zusammenkam, schwelte zwischen George und Gundolf ein Konflikt, den sie ähnlich schon mehrfach durchgestanden hatten, der diesmal aber besonders aufreibend zu werden drohte. Es ging um Elisabeth Salomon, eine Studentin, in die sich Gundolf während des Krieges immer mehr verliebt hatte. Fast der gesamte Freundeskreis wurde in den nächsten Jahren in den »Fall Elli« involviert, an manchen Tagen schien es überhaupt kein anderes Thema mehr zu geben. »So weit kommt es, wenn die Weiber in geistigen Dingen den Ton angeben«, klagte George ein ums andere Mal und wunderte sich immer aufs Neue, »dass ein Weibswesen überhaupt solchen Einfluss auf ihn gewinnen kann«. 1
Gundolf hatte aus seiner Schwäche gegenüber schönen Frauen nie einen Hehl gemacht. Als er am Neujahrstag 1904 zum ersten Mal ein Mädchen zu George schickte, um sie von ihm begutachten zu lassen, war der Meister zwar nicht sehr erbaut, er fand die Manja sogar »recht bedenklich«. Aber er ließ Gundolf gewähren: »geniesse solang es geht.« Schon damals warnte er ihn allerdings, er solle sich »in sträflicher leichtmütigkeit über die verwickelungen« einer festen Bindung nicht täuschen. 2 Dieser Linie folgte George auch in späteren Jahren. Als Gundolf sich 1911 in Fine Sobotka verliebte und George zum ersten Mal Gefahr lief, ihn an eine Frau zu verlieren, erinnerte er ihn an all die anderen Schönen, die dann seiner Liebe verlustig gingen. Gundolf müsse
das platonische wort in vielfachem sinn beherzigen dass die erste stufe die liebe zu einem schönen leibe die höhere aber »zu mehreren schönen leibern« ist. – Denk mal wieviel hunderte vielleicht heute leben die würdig
wären von Dir, von Uns, geleitet und geliebt zu werden – die vielleicht so nur allein zu ihrer höhe geführt werden können! Der gedanke dass da so VIELE verloren gehen können ist doch das Traurigste von allem Traurigen! Also Seele!! 3
Je mehr Frauen auf Gundolfs Leporello standen, desto sicherer konnte George sein, dass er ihm erhalten blieb. Gundolf hatte immer zu den glühendsten Verfechtern der männerbündischen Ideologie
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