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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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»Der Weltkrieg war der Dämon, der die Pathetik kurz und klein schlug.« 53
    Der Abstand wird besonders deutlich beim Vergleich der letzten Folge der Blätter für die Kunst mit der fast gleichzeitig veröffentlichten wichtigsten Gedichtanthologie des Expressionismus, Menschheitsdämmerung . Die wegweisenden Bände von Däubler, Heym, Benn, Werfel, Trakl und Stadler waren zwar allesamt bereits vor dem Krieg erschienen, und einige der führenden Dichter hatten das Kriegsende nicht erlebt: Dennoch wurde das expressionistische Gefühl erst mit der Menschheitsdämmerung 1920 zum Epochenbegriff. »1910 – 1920. Meine Generation!«, jubelte Gottfried Benn noch ein Jahr vor seinem Tod und schob mit dem Begriff vom »expressionistischen Jahrzehnt« den Krieg einfach beiseite. 54 Innerhalb der ersten zwei
Jahre wurden von der Menschheitsdämmerung vier Auflagen mit insgesamt 20 000 Exemplaren abgesetzt. George fühlte sich von der neuen Art zu dichten geradezu abgestoßen; über Fritz von Unruhs Antikriegsdrama Ein Geschlecht notierte er: »gespieener Claudel – ganz verstandmässige menschen wissen dass tiefe nur durch das a logische hervorgebracht wird – und fabricieren bewusst alogik … damit aber an dem zeug die zuschauer einen anteil nehmen ist beifügung von etwas grusel + schweinerei nötig – so entstehen solche Dinge.« 55
    Auch George hatte sich von der fiebrigen Stimmung des Jahres 1919 anstecken und auf einen Schlag zweitausend Exemplare der letzten Blätter -Folge drucken lassen. Das entsprach etwa dem Achtfachen der Durchschnittsauflage und stand zum erklärten Ziel des Unternehmens in krassem Widerspruch. Aber »trotz weitester Verbreitung« gab es »nicht eine einzige öffentliche Stimme weder im Inland noch im Ausland«, nicht einmal einen Verriss. »So kehrte das Verhältnis der Blätter für die Kunst zur deutschen Öffentlichkeit wieder zu den Anfängen ihres unbeschrienen Daseins zurück.« 56 Offenbar nicht freiwillig, sondern weil die Rezensionen ausblieben. Hatte der Sonderdruck des Gedichts Der Krieg vom Juli 1917 noch 18 Besprechungen im In- und Ausland gefunden, so wurden die Drei Gesänge vom Dezember 1921 – immerhin Georges erste selbständige Nachkriegsveröffentlichung – in Deutschland gerade noch zweimal erwähnt, nämlich gleich doppelt in der Frankfurter Zeitung , wo im Mai 1920 auch der einzige kurze Hinweis auf die letzte Blätter -Folge erschienen war. »Was man auch für Hoffnungen auf die geschichtsbildende, weitwirkende Kraft der Georgeschen Gründung gesetzt haben mag«, schrieb der Kunstwart zum 50. Geburtstag im Juli 1918, »sie sind samt und sonders erledigt.« 57
    Das mochte auf die Schlussphase des Krieges und auf die ersten Nachkriegsjahre zutreffen, aber es war dennoch vorschnell geurteilt. Denn je mehr sich George auf die Positionen zurückzog, die er bereits vor dem Krieg eingenommen hatte, desto mehr Zustimmung fand er bei denen, die sich mit den Veränderungen vom November 1918 nicht abfinden wollten. Im Spektrum der Literatur der zwanziger
Jahre rückte er damit unweigerlich ein großes Stück nach rechts und wurde für viele zu einem Bollwerk der Reaktion. Dass er seine verspätete Anerkennung gerade in den Kreisen fand, die gesellschaftlich am meisten verloren hatten und sich mit den neuen politischen Verhältnissen am wenigsten anfreunden konnten, erwies sich als ein für die Wirkungsgeschichte Georges folgenschwerer Anachronismus. Fritz Stern nannte die Gruppe der 1918 politisch und gesellschaftlich heimatlos Gewordenen »enterbte Konservative«. Sie »wollten die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit wiederzufinden«. Ihnen bot das Werk Georges zahlreiche Möglichkeiten der Identifikation. Hier war jene »idealistische, unpolitische Unzufriedenheit« in Sprache gebracht und konserviert geworden, die wesentlich zum Untergang der Weimarer Republik beitrug. 58
    Die späte Inanspruchnahme seines Werkes durch ein politisch frustriertes Publikum wirft unweigerlich die Frage nach der Mitverantwortung Georges auf. Kurt Sontheimer bezeichnete es als »eines der delikatesten Probleme der Ideologieforschung«, den Transformationsprozessen nachzugehen, die aus einem bestimmten Denkansatz eine politische Konkretion werden lassen. Die Versuchung, einen kausalen Zusammenhang herzustellen, sei grundsätzlich immer vorhanden; dennoch müsse man sich davor hüten, »eine geistige Position allein von ihrer

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