Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
empfahl, auch die Meinung »von einigen andren« einzuholen. »Was denkt deine mutter und Ernst – was sagen Kahlers und Salzens? Grade Fine könnte dich doch sehr beraten …« 40 Gundolf tat sich schwer mit der Entscheidung. Wie aus den Briefen an Elli hervorgeht, hatte er einserseits das Gefühl, dass es mit dem Zauber von Heidelberg allmählich zu Ende ging, andererseits fürchtete er als Jude die politische Instabilität an der Berliner Universität. Ende April lehnte er den Ruf ab.
Je mehr ihm Gundolf entglitt, desto heftiger brachen in George die alten Vorbehalte gegen die Wissenschaft durch. Bei einem Rundgang im Park der Heidelberger Klinik, die er im Frühsommer 1920 einige Wochen aufsuchen musste, fiel der später oft zitierte Satz: »Von mir aus führt kein Weg zur Wissenschaft«. 41 George ging am Arm von Salin, Gundolf lief nebenher, es herrschte angespannte Stimmung. George habe sich demonstrativ nur an ihn gewendet, erinnerte sich Salin, obwohl das, was er sagte, zum größten Teil eigentlich für Gundolf bestimmt gewesen sei. Er »äußerte sich scharf über die Nutzlosigkeit des Wissenschaftsbetriebs« und warnte davor zu glauben, dass man mit dem, was man bei ihm lerne, an der Universität reüssieren könne. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt wurde Gundolfs weitere Entwicklung von George »als prognostizierbare geistige Verfallsgeschichte bewertet«. 42 Je deutlicher er in den folgenden Jahren »im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit als der führende Repräsentant einer spezifischen George-Wissenschaft erschien«, desto mehr
distanzierte sich George von ihm. Die Liste der Verdikte über Gundolfs späte Publikationen ist lang.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, fiel im November 1922. Gundolf hatte ein weiteres, aus Georges Sicht überflüssiges Buch geschrieben. Es war ein Buch über Heinrich von Kleist und trug die Widmung »Elisabeth Salomon zugeeignet«. Diese Widmung, die während des Druckens angeblich hinter seinem Rücken eingefügt wurde, nahm George zum Anlass, den Kontakt zu Gundolf endgültig abzubrechen. 43 Im Mai hatten sie noch einmal einige Wochen gemeinsam in der Villa Lobstein, Schlossberg 55, gelebt. Elli hielt sich damals bei ihrer Schwester in Wien auf und wohnte, wenn sie zu Besuch kam, in der Pension Neuer, Schlossberg 49. In diesem Frühjahr muss es zwischen George und Gundolf wiederholt zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sein. »Die Worte, die gefallen waren«, notierte Edith Landmann beim nächsten Treffen mit George, machten »die Trennung notwendig«. 44
Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden. George wollte Gundolf nicht mehr sehen. Dieser ahnte, dass sich in Berlin etwas gegen ihn zusammenbraute. »Ich wollte nach Berlin, doch ist mein Dortsein jetzt nicht erwünscht«, schrieb er am 13. Dezember an Kahler. 45 Gundolf war ein treuherziger, gutgläubiger, stets auf Ausgleich bedachter Mensch, der Konfliktsituationen aus dem Weg ging und Unangenehmes von sich schob. Weil er das Böse an George immer verdrängt hatte, traf es ihn umso härter, dass er nach zwanzigjähriger Freundschaft jetzt so brutal ausgegrenzt wurde. Dennoch konnte er sich nicht entschließen, sich von George loszusagen. Nicht einmal, als dieser ihm drei Jahre nach dem Bruch auf der langen schmalen Stiege entgegenkam, die den Schlossberg mit der Altstadt verbindet – George stieg herauf, Gundolf ging hinunter -, und seinen Gruß nicht erwiderte. Es sei geradezu lachhaft gewesen, mokierte sich George, »wie er da so schüchtern sein Hütchen rückte«. 46 Am 22. Oktober 1926, zwei Wochen vor seiner Heirat, hielt Gundolf in Köln einen Vortrag über George. Er nutzte die Gelegenheit, Bertram zu besuchen, dem er »mehrere Stunden lang« von der
» tragischen Entwicklung seines Verhältnisses zu G.« erzählte. »Eine vollkommene Tragödie«, schrieb Bertram anderntags an Glöckner, »ich habe selten etwas so Trauriges gehört.« 47
George überkam, wenn er in späteren Jahren über Gundolf sprach, eine merkwürdige Sentimentalität. Was er betrauerte, war aber vor allem sein eigenes Schicksal, wegen »so einer« von seinem Lieblingsjünger im Stich gelassen worden zu sein. Die Vorstellung, dass Gundolf einen anderen Menschen mehr liebte als ihn, war ihm unerträglich. Deshalb suchte er nach Erklärungen und sprach erst von sexueller Hörigkeit, dann von Verrat und am Ende von geistiger Verwirrung. »Da ist eine kranke Stelle im
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