Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
auch unmittelbar an ihrer Konzeption beteiligt gewesen sein. Der Rhein habe sich zweimal als der eigentliche Kulturraum der Deutschen erwiesen, so Wolters’ These: das erste Mal im Kampf der Germanen gegen die Römer, das zweite Mal in der Dichtung Stefan Georges. Zwar rief er auch andere Dichter von Rhein, Main und Neckar als Zeugen auf (ja sogar Karl Marx aus Trier und Friedrich Engels aus Barmen!), am Ende aber verbürgte ihm vor allem der Dichter aus Bingen die Rechtmäßigkeit des Widerstands gegen Frankreich. 59
Wolters verstand es immer wieder, die Brücke zu schlagen zwischen den großen, die Nation bewegenden Themen und der Georgeschen Dichtung. »Wir sind unseren Gegnern trotz unserer Niederlage das Unheimliche, Unberechenbare geblieben«, hieß es 1925 am Ende eines Vortrags über »Goethe als Erzieher zum vaterländischen Denken«. »Sie mögen nur suchen! Die Stätte des Geistes finden sie nicht, und stärker als alle vergrabenen Waffen sind auch heute wieder die Waffen, welche der Dichter schmiedet.« 60 Auch diesmal konnte es für die Zuhörer keinen Zweifel geben, welcher Dichter hier der
Schmied war. Damit aber das Bild nicht vage im Metaphorischen blieb, stellte Wolters sogleich den militärischen Bezugsrahmen her: »Größer als der verbotene Generalstab ist der Kreis der Führer, die er erzieht, gefährlicher als alle verborgenen Kampfbünde ist die heldische Jugend, die ihm erwächst«. Solche Sätze müssen George gefallen haben. An einem der Winterabende 1920/21 in Lechters Atelier nahm er ein Exemplar der Elften/Zwölften Folge in die Hand, »hob es triumphierend empor und rief: › Dieses ist der Sieg Deutschlands über Frankreich!‹« 61
Der Kampf um die geistige Führung der Jugend war schon bald nach dem Krieg zu einem herausragenden Thema der öffentlichen Debatte geworden. Im Bewusstsein ihrer moralischen, kulturellen und politisch-militärischen Demütigung blieb der Glaube an die deutsche Jugend für viele die einzige Hoffnung. Georg Simmel hatte diese Stimmung frühzeitig erkannt; im Mai 1918, also noch vor Ende des Krieges und wenige Monate vor seinem Tod, schrieb er an Hermann Graf Keyserling:
Es geht nämlich zweifellos durch unsere heutige Jugend eine leidenschaftliche revolutionäre Sehnsucht nach einer Vita-Nuova, ein Kämpfenwollen um eine geistige Lebensgestaltung … kein idealistisches Sich-zurückziehen von der Welt, sondern ein Bearbeiten ihrer, aber in durchaus idealistischem Sinne; eine Todfeindschaft gegen alle Bürgerlichkeit, gegen alle Mechanisierung und Amerikanisierung … Es ist in diesen Bewegungen viel unklar Gärendes, viel unverschämt Aggressives, aber doch eine ungeheure Lebendigkeit, und ein höchst erfreuliches Sturmlaufen gegen die alten morschen Mauern. 62
Wie aber sah die Jugend aus, die Wolters in Marburg um sich versammelte und die geschlossen aufmarschierte, wenn George erwartet wurde? Die Eigenwahrnehmung des Marburger Kreises dürfte in etwa dem entsprochen haben, was Gundolf in seinem George-Buch als Idealbild des deutschen Jünglings entworfen hatte. Deutsche Jugend, hieß es da, »ist eine Weltkraft, von der Jugend aller anderen Völker unterschieden, eine geistig sinnliche Urform des Menschtums derengleichen seit dem griechischen Jüngling, seit dem Tod Alexanders auf Erden nimmer erschienen ist«. 63 Mit entsprechend stolz geschwellter
Brust, die Haare lang, die Kragen weit, liefen die George-Jünger durch die Straßen von Marburg und hielten es für eine gelungene Provokation, wenn die Bürger gafften. In Universitätskreisen sehe man ihn bereits als eine »Gefahr für die Jugend«, wusste Wolters im April 1922 stolz zu berichten. Im lokalen Satireblatt las man es so: »Der Meister hängt in den Armen zweier Jünger. Seine braunen Sammethosen singen rhythmisch. Er macht ein Photographiegesicht. Zwei Jünger wandeln vorauf, zwei Jünger wandeln hernach. Es ist ein ewiger Gang nach Emmaus. So geht er einher, so öffentlich öffentlichkeitsfeindlich. So weltlich weltverloren.« 64
Stilisierung war alles. Wolters legte Wert darauf, dass ein junger Mann sich nach Georgescher Art die Krawatte band, das Weitere würde sich finden. Aber es lag jenseits seiner Möglichkeiten, in einem Jungen mehr zu sehen als einen potentiellen Georgeaner. Diese Art von Pädagogik lasse einen jungen Menschen geistig nicht über die »Kadettengrenze« hinauskommen, giftete Salin. 65 Da er kein erotisches Verhältnis zu Knaben hatte, fehlte Wolters eine der
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