Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Entwicklung, die sich hier ankündigte: Zum ersten Mal wurde das dichterische Wort vorsätzlich, und noch dazu von einem langjährigen Vertrauten, für völkische und nationale Zwecke in Anspruch genommen.
Wolters’ Kampf richtete sich in erster Linie gegen den Versailler Vertrag, in dem Deutschland und seine Verbündeten als alleinige Urheber für alle Verluste und Schäden des Krieges verantwortlich gemacht wurden. In einer Rede zum zehnten Jahrestag der Unterzeichnung am 28. Juni 1929 legte er dar, was von einem Vertragswerk zu halten sei, das darauf abziele, den Deutschen »das moralische Rückgrat zu brechen, so dass sie überhaupt als ernstzunehmendes Volk und gefährlicher Nachbar ausschieden«. – »Wie war ein solcher Vertrag im Zeitalter der Humanität und Zivilisation möglich?«, fragte er. In der Geschichte habe Krieg immer als ein von Zeit zu Zeit notwendiges Sichmessen der Völker gegolten; weil die Gegner sich als prinzipiell gleichberechtigt betrachteten, hätten die jeweiligen Sieger am Ende auch die Verantwortung für den Frieden getragen. Die Sieger von 1918 aber hätten diese moralische Kraft, »das Recht des Siegers gegen den überwundenen Gegner geltend zu machen«, nicht mehr
aufgebracht und deshalb »ein Kriegsverbrechen und eine Kriegsschuld konstruieren« müssen. Wolters nannte den Vertrag von Versailles ein Dokument der Schwäche, »aus dem Hasse, dem Neid und der Furcht geboren und nicht zuletzt aus einem unaufhebbaren Missverstehen« deutschen Wesens. Es sei die Pflicht des deutschen Volkes, »die Schuldfrage so lange offen zu halten«, bis es gleichberechtigt in die Völkergemeinschaft zurückkehre. 54
Wolters’ Position war die eines Nationalkonservativen, der sich im Parteienspektrum der Weimarer Republik zwischen der Deutschen Volkspartei und den Deutschnationalen bewegte. Obwohl George die Niederungen der Tagespolitik mied und politisches Engagement für Zeitverschwendung hielt, teilte er den Woltersschen Standpunkt. »In ein paar Jahren würde er Wolters darauf hetzen, eine Geschichte des Krieges zu schreiben«, meinte er im Sommer 1919. 55 Auch er empfand den Versailler Vertrag und die Härte, mit der vor allem die Franzosen ihn durchsetzten, als eine nationale Tragödie. Als Julius Landmann über die verheerenden Auswirkungen der Besatzungspolitik in Baden berichtete, soll er Tränen vergossen haben. Er habe schon mit dem Gedanken gespielt, »keine Zigaretten mehr zu rauchen oder sich den Bart nicht zu scheren, bis der Feind aus dem Land sei«.
Besonders empörte George, dass die Franzosen zur Überwachung der Deutschen auch farbige Einheiten an den Rhein abgestellt hatten. Die nationale Propaganda sprach von der »Schwarzen Schmach« und verbreitete allerhand Greuelgeschichten: von Vergewaltigungen weißer Frauen durch schwarze Soldaten, von Schwarzen, die im Rhein badeten, und anderen, die im Dom von Worms die Marseillaise anstimmten. Für all das würden die Franzosen eines Tages bezahlen müssen, meinte George, und für diesen Tag wolle er gern noch zehn Jahre leben: »die werden noch so Keile kriegen, solche Keile«. 56 Frankreich habe »den größten Fluch auf sich geladen … der ein Volk je treffen kann«, urteilte Wolters 1923. »Es hat Blutschande begangen«, indem es »fremdstämmige Sklaven gegen freie blutsverwandte Völker« in Stellung brachte. 57 Wolters wusste, auf wen er sich berufen
konnte. »Blut-schmach«, hatte George in seinem Kriegsgedicht geschrieben, gehöre zum Ärgsten, was Völker sich antun könnten: »Stämme / Die sie begehn sind wahllos auszurotten«. 58
Als am 11. Januar 1923 französische Truppen im Ruhrgebiet einmarschierten, um ausstehende Reparationslieferungen einzutreiben, rief die Reichsregierung die Bevölkerung zum passiven Widerstand auf. Die Eskalation der Besatzung erreichte eine neue Stufe; von den Franzosen tatkräftig unterstützt, kam es im Sommer an vielen Orten zwischen Landau und Aachen zu Aufständen von Separatisten, die auf eine Abtrennung der linksrheinischen Gebiete vom Deutschen Reich drängten. Bei aller Sympathie für die Idee des alten lotharinigischen Mittelreichs waren weder George noch Wolters für einen solchen Coup zu haben: der Rhein war Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze. Auf der Tagung des Deutschen Hochschulverbandes am 15. März in Marburg hielt Wolters eine programmatische Rede: »Der Rhein unser Schicksal«. Als Hausgast von Wolters dürfte George die Rede nicht nur gehört haben, sondern
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