Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Gehirn«, meinte er, als er im Juni 1926 Gundolfs Ankündigung der bevorstehenden Eheschließung erhielt. 48 Es war Gundolfs letzter Brief an ihn. George gab zum Beweis von Gundolfs Unzurechnungsfähigkeit näheren Freunden eine Abschrift. Der Brief war ohne Anrede und lautete vollständig:
Ich habe beschlossen Elisabeth Salomon in diesem Jahr zu heiraten wie Herz und Gewissen mir befiehlt, überzeugt dass ich damit deinem Wunsch, nicht deinem Recht zuwiderhandle, da dies Wesen deine Gnade mehr verdient als ich. Da ich dich nicht überzeugen konnte, so will ich lieber mit ihr in die Hölle als ohne sie in den Himmel. Die Folgen weiss ich: das Leid durch dich und um dich, und will sie tragen. Von dir falle ich nicht ab, auch wenn du mich verwirfst. Dein Gundolf 49
Am 12. Juli 1931, Georges 63. Geburtstag, starb Friedrich Gundolf im Alter von 51 Jahren in Heidelberg an Krebs.
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Mit Gundolfs Ausscheiden verlagerten sich die Gewichte innerhalb des Kreises zugunsten jener Kräfte, die er von Anfang an bekämpft hatte. Der starke Mann hieß jetzt Friedrich Wolters. Im April 1920, als Gundolf den Ruf nach Berlin ablehnte, trat Wolters in Marburg eine Stelle als Extraordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte an. Die Stadt lag strategisch günstig, nicht nur wegen Georges alljährlicher
Herbstreise nach Berlin, sondern auch wegen der Nähe zu Bad Wildungen, das George jetzt immer wieder aufsuchen musste. Sein Telegramm vom 22. Juli 1920, dem Tag seiner ersten Operation – »bitte wolters oder erika noch heute kommen george« -, lässt ahnen, welche besondere Form der Nähe auch durch die Krankheit in den nächsten Jahren entstand. 50 Wolters war seit 1915 mit Erika Schwartzkopff verheiratet, einer Kusine von Kurt Hildebrandt, die schon vor dem Krieg in Berlin mit Eifer an Leseabenden teilgenommen hatte und George mit der gleichen unbedingten Ehrerbietung huldigte wie der übrige Wolters-Kreis.
Am 29. Januar 1923 fuhr Wolters im Auftrag Georges nach Heidelberg, um Gundolf darüber in Kenntnis zu setzen, dass die Widmung des Kleist-Buches den Zorn des Meisters hervorgerufen habe. Eine solche Widmung sei keineswegs »eine Privatsache«, wie Gundolf offenbar glaube, sondern »die bewusste Verheimlichung einer Handlung in Staatsdingen … eine absichtliche Täuschung des Führers«. Durch das Blätter-Signet auf dem Titel habe die Widmung offiziellen Charakter bekommen. Jedermann wisse, dass die alleinige Verfügungsgewalt über das Signet bei George liege, und deshalb sehe es jetzt so aus, als habe er »mitunterzeichnet«. Der Vorwurf lautete auf Diebstahl und Missbrauch der heiligen Insignien. 51
Einen zuverlässigeren Botschafter als Wolters hätte sich George, der in der ersten Januarhälfte in Marburg eingezogen war und bis Mitte März blieb, nicht wünschen können. Wolters dachte in staatlichen Angelegenheiten abstrakt und hierarchisch, in den Kategorien von Herrschaft und Dienst. Gundolfs Verhalten war in seinen Augen nicht nur eine Kränkung für George, sondern auch eine Gefahr für den Staat. Zwar ließ er es nicht an persönlichem Mitgefühl für Gundolf fehlen und goss auch kein Öl ins Feuer, aber er sah natürlich, dass sich ihm hier eine Chance zum Aufrücken eröffnete. Als Gundolf drei Wochen nach ihrem Gespräch bat, seine Sicht der Dinge George persönlich darlegen zu dürfen, antwortete Wolters: »Der Meister lässt Sie fragen, ob Sie ihm bei der Zusammenkunft etwas Wichtiges zu sagen hätten.« Falls nicht, sei es besser, neuerliche Auseinandersetzungen
zu vermeiden, die nur die Gesundheit des Meisters gefährdeten – »Sie wissen ja selbst, wie sehr innere Erschütterungen bei ihm sich in leiblichen auswirken«.
Anders als Gundolf, dem es nie in den Sinn gekommen wäre, Anhänger um sich zu scharen, hatte Wolters seine wichtigste Aufgabe von Anfang an in der »öffentlichkeitswirksamen Agitation« gesehen. 52 Auf direktem Weg möglichst viele junge Leute anzusprechen und dem Meister dann die Besten zuzuführen war immer schon sein Ziel gewesen, und diesem Ziel war er durch die Marburger Berufung ein großes Stück näher gekommen. Wenn er an die »vier bis fünfhundert jungens« denke, denen er am Vortag eine Reihe von »heldischen und vaterländischen« George-Gedichten vorgelesen habe, berichtete er am 3. Dezember 1920 stolz, dann traue er sich zu, bald »jede menge in den bann des dichterischen wortes zu ziehen wenn es nur deutsche sind und kinder des geistes«. 53 Es war eine fatale
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