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Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Stefan George - Karlauf, T: Stefan George

Titel: Stefan George - Karlauf, T: Stefan George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Karlauf
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wesentlichen Voraussetzungen zur Beurteilung der Frage, wie die Jugend beschaffen sein müsse, die es zu führen galt, und nach welchen Kriterien sie auszuwählen sei. Unter einem »SS« vermochte er sich im Unterschied zu den George Nahestehenden, die wussten, dass ein »Sehr Süßer« gemeint war, nichts anderes vorzustellen als eine »StaatsStütze«. George wunderte sich ein ums andere Mal über die ihm von Wolters empfohlenen Kandidaten und klagte, dass der Freund leider keinen Blick habe für die Substanz eines Menschen. Der Eros verlange nun einmal den Einsatz der ganzen Person. Von den Marburgern sei nichts zu erwarten, »eh nicht jeden morgen ein aufgehenkter an eurem gartenzaun« hänge. 66

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    Im Jahr 1922 verlagerte George seinen Lebensmittelpunkt von Heidelberg nach Marburg. Die Entfremdung von Gundolf, das neue Domizil von Wolters, der ihm ein Erkerzimmer im ersten Stock als ständiges Gästezimmer einrichtete, und der kurze Weg nach Bad Wildungen – all das mag dabei eine Rolle gespielt haben. Der eigentliche Grund für den Wechsel war jedoch ein anderer: ein 19-jähriges Wunderkind von der Schwäbischen Alb, Max Kommerell. Diese neue, ungewöhnlich rasch sich entwickelnde Freundschaft erleichterte George die Trennung von Gundolf, beschleunigte womöglich den Bruch und ließ Kommerell wie von selbst in die Vertrauensstellung hineinwachsen, die Gundolf zwanzig Jahre lang bekleidet hatte.
    Der Wechsel von Gundolf zu Kommerell war, was die innere Struktur des Freundeskreises betraf, sehr viel folgenreicher als der Wechsel von Gundolf zu Wolters. Weil der neue Lieblingsjünger schon bald dazu neigte, seine Vorzugsstellung gegen andere auf unverträgliche Weise auszuspielen, wirkte er stark polarisierend. Mit Max Kommerell begann die schleichende Desintegration des Kreises, die allmähliche Auflösung in einzelne, miteinander rivalisierende Gruppen. Zu denen, die George frühzeitig vor einer solchen Entwicklung warnten, gehörte Ernst Morwitz, der »die Kröte« 67 vom ersten Tag an nicht ausstehen konnte. Als Kommerell in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre über Wochen und Monate zum ständigen Begleiter des Meisters avancierte, zog sich Morwitz zurück.
    Nach den ästhetischen Kriterien des Kreises war Kommerell unansehnlich: klein, schmallippig, die Stirn schon früh von Falten zerfurcht. Dennoch wusste er George auf Anhieb zu fesseln. Erstens schrieb er schöne Gedichte. Zweitens besaß er ein ungeheuer lebendiges, quirliges Wesen und hatte einen wachen Blick. Man war stets auf der Hut vor ihm und spürte, dass es besser war, sich nicht mit ihm anzulegen, vor allem nicht, wenn George daneben saß, dem Kommerells Angriffslust großes Vergnügen bereitete. »Vor dem warne ich Sie«, ließ er Edith Landmann wissen 68 – und sein Stolz war unüberhörbar.
Er nannte ihn abwechselnd Maxim, Puck oder Mein Kleinstes (M.K.) 69 und machte sich jedesmal ernste Sorgen, wenn er ein paar Tage nichts von ihm gehört hatte.
    Kommerell, der am 25. Februar 1902 in Münsingen als siebtes und letztes Kind eines Landarztes geboren wurde und nach dem frühen Tod der Mutter unter Aufsicht der älteren Schwestern in Waiblingen und Cannstatt aufwuchs, hatte mit 14 Jahren bereits die halbe Weltliteratur gelesen. Mit 17 begeisterte er sich für die Schriften von Wynecken und Blüher, schwärmte für Carl Spitteler, las 1920 den Untergang des Abendlandes und vor dem Zubettgehen auch noch Stefan George, »der gegenwärtig mein Lehrmeister ist«. 70 Er hatte bereits vier Semester Literatur und Philosophie hinter sich, als er sich gemeinsam mit Ewald Volhard im Sommer 1921 entschloss, von Heidelberg nach Marburg zu wechseln. 71 Nachdem er in Heidelberg vergeblich Anschluss an Gundolf gesucht hatte, traf es sich gut, dass sich just um diese Zeit die Gewichte innerhalb des Kreises von Gundolf zu Wolters verschoben.
    Wolters scheint in Kommerell einen geeigneten Kreis-Kandidaten gesehen zu haben, und diesmal täuschte er sich nicht. Als George ihn in der zweiten Juliwoche in Augenschein nahm, erklärte er den Aufenthalt in Marburg kurzerhand für beendet, fuhr mit Kommerell nach Heidelberg, nahm ihn mit auf den Schlossberg und feierte dort am 12. Juli 1921 seinen 53. Geburtstag mit ihm. Mindestens zwei Wochen wohnten sie gemeinsam in den Räumen der Villa Lobstein. Wenn Kommerell, »kaum wach geworden in das große Zimmer schlüpfte, um der Geister Pflichten zu warten und zur Morgenaudienz zu kommen«, 72 wiederholte sich das

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