Stefan George - Karlauf, T: Stefan George
Moment für ihn gewesen sein. Dieser junge Mann verkörperte in vollkommener Weise jenen sinnlich-melancholischen Typus, nach dem er von jeher verlangte, den er aber nur selten in solcher Reinheit gefunden hatte – zuletzt in Bernhard von Uxkull. Der Hans sei ein geborener Prinz, pflegte er zu sagen und brachte seinen Freunden bei, im Hans nicht nur das Aristokratische zu sehen, sondern vor allem auch die Ähnlichkeit mit ihm selbst. George habe »geradezu eine Familienverwandtschaft« empfunden, berichtete Thormaehlen, und gelegentlich gefragt: »Ist der Hans nicht mir ähnlich, sieht er nicht aus wie ich?« Pflichtschuldig fügte der
Chronist hinzu, dass Johann Anton, »wenn er mit dem Dichter durch die Straßen schritt, für den leiblichen Sohn Georges gehalten« wurde. 78 Doch konnte von einer Ähnlichkeit der beiden auch nicht im Entferntesten die Rede sein. Nimmt man die Befriedigung seines Narzissmus als Gradmesser seiner Zuneigung, war George in höchstem Maße verliebt.
Anders sind die Heimlichkeiten der nächsten Wochen nicht zu erklären. Als das Semester Anfang April zu Ende geht, brechen alle ihre Zelte in Marburg ab. George, Anton und Kommerell fahren nach Heidelberg, Kommerell reist von dort weiter zu seiner Schwester nach Cannstatt. Am 13. April, Gründonnerstag – auf den Bergen liegt noch Schnee – treffen George und Anton in Königsfeld ein, einem Luftkurort im östlichen Schwarzwald, wo Edith Landmann ihr krankes Töchterchen in Pflege gegeben hat (es starb drei Jahre später). Sie bleiben eine gute Woche und setzen niemanden darüber in Kenntnis, offenbar nicht einmal Kommerell, der sich in einem Brief an George Sorgen macht, »dass wir alle kein wort vom Hansel wissen noch wo er ist«. 79 In der George-Literatur wird die Manie der Geheimhaltung häufig als Mittel zur Steigerung der Mystifikation beschrieben. Die Geheimhaltung von Aufenthaltsorten und der streng reglementierte Informationsfluss dienten zweifellos auch der Sicherung von Herrschaftswissen. Dahinter aber stand Georges elementares Interesse, Streit und Eifersucht unter den Freunden vorzubeugen.
Ende April war der Hansel via Heidelberg nach Hause gefahren. Am 6. Mai bedankte er sich bei George für die schönen Tage und bat um ein Wiedersehen vor dem vereinbarten Termin; er halte es ohne ihn kaum aus. Er bemühe sich zwar, die meisterlichen Ermahnungen zu beherzigen, und in Max habe er ja auch ein Vorbild an Festigkeit. Aber dem Meister den Tee vorzubereiten sei nun einmal eine lohnendere und schönere Aufgabe, als sich mit den Problemen der Wissenschaft oder mit der Familie herumzuschlagen. Er denke viel an die Reise in den Schwarzwald, am meisten aber an das morgendliche Wecken und Gewecktwerden. Anders als der ambitionierte Kommerell zog Anton die Anrede Meister in der dritten Person vor und mied
auch in späteren Briefen das Du. Ehrfurcht und Ergriffenheit hemmten ihn bis zum Schluss. Antons Briefe zeugten von der schieren Überwältigung durch das Erlebte, wahrten aber zugleich den Abstand. Die Scheu war für George ein wichtiges Kriterium, Leidenschaft und Distanz mussten sich die Waage halten. Der Vierzeiler für Johann Anton dürfte in unmittelbarem Anschluss an die Tage im Schwarzwald entstanden sein:
Du unversehrten leibs trankst bei mir mut
Dass nicht der geist zerbräch in dunst und flut..
Nun halt ich dich geläutert und gesund
Und nehme kraft mir auf aus deinem grund. 80
Was sich im Frühjahr 1922 zwischen George, Anton und Kommerell anbahnte, war eine perfekte, bis zum Herbst 1929 reibungslos funktionierende Dreiecksbeziehung. Sie entwickelte allerdings eine solche Eigendynamik, dass die bis dahin trotz aller Rivalität unter den einzelnen Freundesgruppen ausbalancierte Statik ins Wanken geriet. Durch ihre Sonderstellung ausgezeichnet, hätten sich Kommerell und Anton als die neuen Dioskuren gesehen, »als ›Jupiter und Mars im Sternbild der Zwillinge‹, und wenn sie vom ›inneren Staat‹ sprachen, so meinten sie den Dichter und sich selbst«. 81
Nachdem im Laufe des Sommers auch Kommerell und Anton vertrauter miteinander geworden waren, dürfte George die Angst, Kommerell könnte eifersüchtig werden, überwunden haben. Anfang August, zu Beginn der Semesterferien, verbrachten Kommerell und Anton zwei Wochen auf dem Antonschen Gut bei Sondershausen in Thüringen. Sie lagen faul in den Liegestühlen, lasen viel, dichteten viel, pflückten vor Sonnenuntergang noch Blumen – »zwischen einem perückenbaum oder
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